Schicksalhafte Lektüre

Von Vanja Budde · 22.07.2005
Dass Bücher das Schicksal der Menschen verändern, ist Gegenstand der Erzählung "Das Papierhaus" des argentinischen Autors Carlos María Domínguez. Ausgangspunkt der rätselhaften Geschichte ist ein Autounfall, beim dem eine Frau bei der Gedicht-Lektüre überfahren wird. Nun ist der Band auch als Hörbuch erschienen.
"Im Frühjahr 1998 kaufte Bluma Lennon in einer Buchhandlung von Soho eine alte Ausgabe der Gedichte von Emily Dickinson und wurde an der ersten Straßenecke, als sie gerade beim zweiten Gedicht angelangt war, von einem Auto überfahren."


Die Literaturdozentin an der Universität Cambridge haucht ihr Leben aus, und ein namenloser Ich-Erzähler tritt ihre Nachfolge an. Dass Bücher gefährlich sind, hatte ihm schon seine Großmutter gesagt, wenn sie ihn beim Lesen im Bett erwischte. Kurz nach Blumas Tod erhält er ein an sie adressiertes Päckchen aus Uruguay.

"Kaum hatte ich den Umschlag geöffnet, überkam mich eine Ahnung. Ich ging zur Tür meines Büros, schloss sie und nahm das zerlesene alte Exemplar von Joseph Conrads Roman "Die Schattenlinie" noch einmal in Augenschein."

An dem Buch kleben Zementbrocken und Mörtelreste. Warum schickt Blumas Kurzzeit-Liebhaber Carlos Brauer das Buch zurück, das Bluma ihm geschenkt hatte? Und warum in diesem Zustand?
Unser Literaturdozent reist um die halbe Welt, um das Rätsel des Buches zu lösen. In Uruguays Hauptstadt Montevideo sucht er den Antiquar Jorge Dinarli auf, der alles weiß über die Bücherfreunde der Stadt und auch Brauer kannte, der mittlerweile verschwunden ist.

"Es gibt zwei Sorten von Menschen, wenn Sie mir gestatten, Ihnen das zu erläutern,"

erklärt Dinarli unserem Fährtensucher.

"Die einen sind Sammler und darauf aus, seltene Publikationen zu ergattern, nur, um sie einmal aufzuschlagen und hineinzusehen.
Die anderen sind wie Brauer Leser durch und durch und stellen im Laufe ihres Lebens beachtliche Bibliotheken zusammen.
Sie sind passioniert und imstande, einen Haufen Geld für ein bestimmtes Buch auszugeben, um für Stunden darin zu versinken und nichts anderes zu tun, als es zu studieren und zu verstehen."

Wie Carlos Brauer ein unersättlicher Leser war, so ist sein Freund Delgado ein fanatischer Sammler. Delgado weiß als Einziger, welch seltsames Schicksal Brauer ereilt hat, und so stöbert unser Ich-Erzähler ihn in seiner Bücherhöhle auf.

"Er führte mich durch das ganze Appartement, und ich entdeckte in jedem Raum immer neue Vitrinen, bis zum Rand gefüllt mit Büchersammlungen. In den Fluren gewaltige Schwenkregale mit Nachschlagewerken. Bücher im Bad, Bücher in der Toilette, Bücher in der Küche, Bücher in den hinteren Zimmern."

Carlos María Domínguez kennt offensichtlich das Problem, dass die geliebten Bücher sich unaufhaltsam ausbreiten und man irgendwann nicht mehr weiß, wohin mit ihnen. Carlos Brauer, das wird dem Literaturdozenten aus Cambridge nach und nach klar, hat über seiner Sammelwut den Verstand verloren.
Außerstande, sich von seinen Büchern zu trennen, hat er sich das titelgebende Papierhaus gebaut. Ein Haus aus Büchern. Auf einem öden, einsamen Sandstrand.

"Einen Vallejo für die Wand neben der Tür, einen Kafka für oben, einen Kant für die Seite und daneben ein gebundenes Exemplar von Hemingways ‚In einem anderen Land’. Und Shakespeare im Mörtel schicksalhaft mit Marlow verbunden."

Daher die Zementreste an dem Conrad. Geklärt wird auch, warum Brauer das Buch an Bluma Lennon zurückgeschickt hat.
Nicht aber, was aus dem Bücherfreund selbst geworden ist. Eines Tages hat er das Papierhaus verlassen und ist nie zurückgekommen.
Dem feinen Witz der gut übersetzen Erzählung von der Magie der Bücher wird der Theater- und Filmschauspieler Jürgen Tarrach in jeder Beziehung gerecht. Dem Hörbuch zu lauschen, macht Lust aufs Lesen.
Und das wird Carlos María Dominguez sicher gefallen.


Carlos María Domínguez: Das Papierhaus
Eichborn Verlag
Hörbuch gesprochen von Jürgen Tarrach
2 CD, ca. 148 Minuten, 17,95 Euro