Schicksale fast vergessener NS-Opfer
Sechzig Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs: Wegen einer Spendenaktion schrieb der Verein Kontakte e.V. ehemalige sowjetische Kriegsgefangene an und bat darum, Erinnerungen aus der Gefangenschaft niederzuschreiben. Über tausend Briefe kamen als Antwort. Sechzig davon wurden für dieses Buch ausgewählt. Die Briefen erzählen von den Schrecken der Inhaftierung sowie das spätere Leben als „Vaterlandsverräter“.
Sie sind mit 3,3 Millionen Toten nach den Juden die zweitgrößte Opfergruppe des Nationalsozialismus und gehören dennoch zu dessen vergessenen Opfern: Die sowjetischen Kriegsgefangenen. In der Wahrnehmung der deutschen Öffentlichkeit spielen sie keine Rolle. Und auch rechtlich sind sie den zivilen NS-Zwangsarbeitern nicht gleich gestellt. Nach Berechnungen des Vereins „Kontakte e.V.“ wurden 20 000 Anträge ehemaliger sowjetischer Kriegsgefangener auf „Zwangsarbeiter-Entschädigung“ abgelehnt.
Diese Lücke zwischen Recht und Gerechtigkeit wollte der Verein „Kontakte“ wenigstens etwas verringern, indem er Bürger um Spenden für diese vergessenen Opfer bat. Adressen erhielt der Verein über die Partner der Bundesstiftung „Erinnerung, Verantwortung, Zukunft“ in den Ländern der ehemaligen Sowjetunion. Die einstigen Kriegsgefangenen bekamen mit dem Geld Briefe, in denen sie darum gebeten wurden, ihre Erinnerungen an die Kriegs- und Nachkriegszeit aufzuschreiben. Aus über tausend Antwortbriefen wurden für das Buch sechzig ausgewählt.
Es sind Briefe voller Dankbarkeit über die Hilfe und Zuwendung, die über sechzig Jahre nach Kriegsende ausgerechnet aus Deutschland kommt. Und es sind Schilderungen von unsäglichem Leid, das den meisten in sehr jungen Jahren angetan wurde.
Gerade in den ersten Kriegsmonaten 1941 und 1942 gerieten viele sowjetische Soldaten in Gefangenschaft. Sie wurden zu Hunderten und Tausenden irgendwo auf nacktem Boden in ein Drahtverhau gepfercht, Sonne und Kälte ausgesetzt, bei Regen und Frost ohne Kleidung, Wasser und kaum Nahrung. Seuchen breiteten sich in den „Russenlagern“ aus. Nikolai Beljak schreibt:
„Das Lager war vollständig auf Menschenvernichtung eingerichtet. Die Leute wurden (...) mit Abfällen ernährt. So gab es eine Balanda (russisch für Gefängnissuppe) aus Kohlraupen. Davon konnte kein Mensch leben. Jeden Morgen luden die Gefangenen selbst die Toten auf Karren und brachten sie hinter das Lager, wo riesige Gruben vorbereitet waren. Die Gefangenen, die die Leichen in die Gruben warfen und selber entkräftet hineinfielen, wurden noch halb lebendig zusammen mit den Toten mit Kalk bedeckt.“
Dieser hunderttausendfache Tod sowjetischer Kriegsgefangener war von der Heeresführung gewollt. Entgegen dem Grundsatz, Kriegsgefangene menschlich zu behandeln, erhob sich nur vereinzelt Widerspruch. Einer kam von Helmuth James Graf von Moltke, den man später zu den geistigen Urhebern des gescheiterten Attentats auf Hitler am 20. Juli 1944 rechnete. Die Antwort des Oberkommandierenden der Wehrmacht, Feldmarschall Keitel, lautete:
„Hier geht es um die Vernichtung einer Weltanschauung! Deshalb billige ich die Maßnahmen und decke sie.“
Die Wehrmacht berief sich zudem darauf, dass Stalin 1941 weder die Genfer Kriegsgefangenenkonvention ratifiziert, noch die Haager Landkriegsordnung anerkannt hatte. Doch nach dem Kriegsvölkerrecht hätten die sowjetischen Kriegsgefangenen nach dem üblichen Standard ernährt, mit Kleidung versehen und untergebracht werden müssen, ebenso wie die deutschen Ersatztruppen. Das geschah nicht – anders als bei den englischen, französischen oder amerikanischen Kriegsgefangenen. Über die Hälfte der etwa 5,7 Millionen sowjetischen Kriegsgefangenen wurde erschossen oder starb an Hunger und Kälte, durch Misshandlungen, Seuchen oder an Entkräftung.
Das Bild, das die Überlebenden jetzt in ihren Briefen von den Deutschen zeichnen, ist dennoch sehr kontrastreich. Einerseits wird von unglaublicher Gewalt, von Demütigungen, Hunger, Kälte und Schwerstarbeit erzählt, manchmal sehr knapp und lakonisch. Andererseits nehmen Berichte über kleinste menschliche Gesten großen Raum ein. Ein deutscher Soldat, der mal wegsieht oder sie nicht gleich erschießt, kann so sehr schnell zum „guten Deutschen“ werden.
Während Kriegsgefangenschaft im Westen als Ehrenhaft galt, wurden die Überlebenden aus den Kriegsgefangenenlagern in der Sowjetunion wie Verräter behandelt. „Keinen Schritt zurück!“ hatte Stalins Befehl gelautet, nach den großen Verlusten zu Beginn des Krieges. Das hieß auch, dass ein sowjetischer Soldat nicht in Gefangenschaft geraten darf. Und so hörten die Rückkehrer immer wieder die Frage: „Warum hast du dich nicht erschossen?“ Sie gerieten in die Mühlen der Staatssicherheit, man verurteilte sie zu Lagerhaft oder schickte sie zur Schwerstarbeit in Kohlegruben und weit entfernte Gebiete.
Das änderte sich erst nach Stalins Tod 1953. Doch die jahrzehntelange Propaganda hatte ihre Spuren hinterlassen. Noch lange Zeit wurde den Kriegsgefangenen misstraut. Erst 1995 benennt der russische Präsident Boris Jelzin das Unrecht, das ihnen doppelt widerfahren ist, als Kriegsgefangene in Deutschland und als vermeintliche Verräter in der Sowjetunion.
Rezensiert von Liane von Billerbeck
Kontakte e.V. (Hrsg.): „Ich werde es nie vergessen“
Briefe sowjetischer Kriegsgefangener 2004–2006
Hrg. vom Verein „KONTAKTE e. V.“, Verein für Kontakte zu Ländern der ehemaligen Sowjetunion
in Kooperation mit dem Deutsch-Russischen Museum Berlin-Karlshorst
Ch. Links Verlag Berlin 2007
272 Seiten, 19,90 EUR
Diese Lücke zwischen Recht und Gerechtigkeit wollte der Verein „Kontakte“ wenigstens etwas verringern, indem er Bürger um Spenden für diese vergessenen Opfer bat. Adressen erhielt der Verein über die Partner der Bundesstiftung „Erinnerung, Verantwortung, Zukunft“ in den Ländern der ehemaligen Sowjetunion. Die einstigen Kriegsgefangenen bekamen mit dem Geld Briefe, in denen sie darum gebeten wurden, ihre Erinnerungen an die Kriegs- und Nachkriegszeit aufzuschreiben. Aus über tausend Antwortbriefen wurden für das Buch sechzig ausgewählt.
Es sind Briefe voller Dankbarkeit über die Hilfe und Zuwendung, die über sechzig Jahre nach Kriegsende ausgerechnet aus Deutschland kommt. Und es sind Schilderungen von unsäglichem Leid, das den meisten in sehr jungen Jahren angetan wurde.
Gerade in den ersten Kriegsmonaten 1941 und 1942 gerieten viele sowjetische Soldaten in Gefangenschaft. Sie wurden zu Hunderten und Tausenden irgendwo auf nacktem Boden in ein Drahtverhau gepfercht, Sonne und Kälte ausgesetzt, bei Regen und Frost ohne Kleidung, Wasser und kaum Nahrung. Seuchen breiteten sich in den „Russenlagern“ aus. Nikolai Beljak schreibt:
„Das Lager war vollständig auf Menschenvernichtung eingerichtet. Die Leute wurden (...) mit Abfällen ernährt. So gab es eine Balanda (russisch für Gefängnissuppe) aus Kohlraupen. Davon konnte kein Mensch leben. Jeden Morgen luden die Gefangenen selbst die Toten auf Karren und brachten sie hinter das Lager, wo riesige Gruben vorbereitet waren. Die Gefangenen, die die Leichen in die Gruben warfen und selber entkräftet hineinfielen, wurden noch halb lebendig zusammen mit den Toten mit Kalk bedeckt.“
Dieser hunderttausendfache Tod sowjetischer Kriegsgefangener war von der Heeresführung gewollt. Entgegen dem Grundsatz, Kriegsgefangene menschlich zu behandeln, erhob sich nur vereinzelt Widerspruch. Einer kam von Helmuth James Graf von Moltke, den man später zu den geistigen Urhebern des gescheiterten Attentats auf Hitler am 20. Juli 1944 rechnete. Die Antwort des Oberkommandierenden der Wehrmacht, Feldmarschall Keitel, lautete:
„Hier geht es um die Vernichtung einer Weltanschauung! Deshalb billige ich die Maßnahmen und decke sie.“
Die Wehrmacht berief sich zudem darauf, dass Stalin 1941 weder die Genfer Kriegsgefangenenkonvention ratifiziert, noch die Haager Landkriegsordnung anerkannt hatte. Doch nach dem Kriegsvölkerrecht hätten die sowjetischen Kriegsgefangenen nach dem üblichen Standard ernährt, mit Kleidung versehen und untergebracht werden müssen, ebenso wie die deutschen Ersatztruppen. Das geschah nicht – anders als bei den englischen, französischen oder amerikanischen Kriegsgefangenen. Über die Hälfte der etwa 5,7 Millionen sowjetischen Kriegsgefangenen wurde erschossen oder starb an Hunger und Kälte, durch Misshandlungen, Seuchen oder an Entkräftung.
Das Bild, das die Überlebenden jetzt in ihren Briefen von den Deutschen zeichnen, ist dennoch sehr kontrastreich. Einerseits wird von unglaublicher Gewalt, von Demütigungen, Hunger, Kälte und Schwerstarbeit erzählt, manchmal sehr knapp und lakonisch. Andererseits nehmen Berichte über kleinste menschliche Gesten großen Raum ein. Ein deutscher Soldat, der mal wegsieht oder sie nicht gleich erschießt, kann so sehr schnell zum „guten Deutschen“ werden.
Während Kriegsgefangenschaft im Westen als Ehrenhaft galt, wurden die Überlebenden aus den Kriegsgefangenenlagern in der Sowjetunion wie Verräter behandelt. „Keinen Schritt zurück!“ hatte Stalins Befehl gelautet, nach den großen Verlusten zu Beginn des Krieges. Das hieß auch, dass ein sowjetischer Soldat nicht in Gefangenschaft geraten darf. Und so hörten die Rückkehrer immer wieder die Frage: „Warum hast du dich nicht erschossen?“ Sie gerieten in die Mühlen der Staatssicherheit, man verurteilte sie zu Lagerhaft oder schickte sie zur Schwerstarbeit in Kohlegruben und weit entfernte Gebiete.
Das änderte sich erst nach Stalins Tod 1953. Doch die jahrzehntelange Propaganda hatte ihre Spuren hinterlassen. Noch lange Zeit wurde den Kriegsgefangenen misstraut. Erst 1995 benennt der russische Präsident Boris Jelzin das Unrecht, das ihnen doppelt widerfahren ist, als Kriegsgefangene in Deutschland und als vermeintliche Verräter in der Sowjetunion.
Rezensiert von Liane von Billerbeck
Kontakte e.V. (Hrsg.): „Ich werde es nie vergessen“
Briefe sowjetischer Kriegsgefangener 2004–2006
Hrg. vom Verein „KONTAKTE e. V.“, Verein für Kontakte zu Ländern der ehemaligen Sowjetunion
in Kooperation mit dem Deutsch-Russischen Museum Berlin-Karlshorst
Ch. Links Verlag Berlin 2007
272 Seiten, 19,90 EUR