Schicht am Schacht

Von Christine Heuer |
Kohle und Stahl prägten lange Zeit das Ruhrgebiet. Doch seit dem Niedergang der Montanindustrie kämpft die Region mit dem Strukturwandel. Länder und Kommunen setzen mit der Wirtschaftsförderung vor allem auf moderne Wirtschaftszweige. Doch nicht überall im Ruhrpott gelingt der schwierige Wandel gleichermaßen gut.
In Dortmund hat die Zukunft schon begonnen. Matthias Mroczkowski und Thomas Rock (19 und 21 Jahre alt) sitzen an den Rechnern in ihrem Ein-Zimmer-Büro im Technologie-Zentrum Dortmund. Im TZDO testen sie ihre Firma audimark auf ihre Praxistauglichkeit. Die Jungunternehmer verkaufen eine Computertechnik, mit der Werbeagenturen kontrollieren können, ob ihre Spots im Internet-Radio gelaufen sind.

"’Die beste Musik im Netz - jetzt auch ohne Computer. Alles, was Du brauchst, ist…’ - Also, das wär’ jetzt ein Mitschnitt aus einem Internet-Radio, wo wir jetzt direkt Werbung gesendet hatten. Davor - das konnte man ja sehr gut erkennen - war ein kleines Audio-Signal, über welches wir sicher stellen können, dass der Werbespot auch gesendet wurde und über das wir auch herausrechnen können, wie viele Hörer diesem Spot zugehört haben."

Für das Büro müssen die jungen Männer keine Miete bezahlen; auch nicht für die Nutzung von Besprechungsräumen und für fachmännische Hilfe zum Beispiel im Umgang mit Banken. Das TZDO sorgt - wie seine Sprecherin Simone Herrmann erläutert - auch für die nötige Infrastruktur:

"Telefon, Fax, Internet - da braucht sich niemand um ’nen Wachdienst kümmern, um ’ne Putzfrau kümmern, um den Empfangsservice kümmern: Das steht. Die brauchen sich nur noch aufs Kerngeschäft konzentrieren."

Seit 1985 sind im Dortmunder Technologiezentrum und im angrenzenden Technologie-Park 8500 Arbeitsplätze entstanden. Alles was, modern und Erfolg versprechend ist, findet auf den alten Industrieflächen eine Heimat. Nicht alle neuen Gründer sind so jung wie die audimark-Chefs. Im Institut für Medizintechnik öffnet Gerhard Preukschat die Tür zum nachgestellten Behandlungszimmer eines Zahnarztes:

Der Kaufmann Gerhard Preukschat ist pensioniert. In Dortmund möchte er modernste Computertechnik zur Dental-Implantologie verkaufen. Nun steht er vor dem Prototyp seiner IT-gestützten Bohrstation und fährt den Rechner hoch:

"Ich ruf’ die Planung jetzt mal auf. Hab’ jetzt die Möglichkeit, anhand des Rechners die genaue Planung durchzuführen. Und wenn er das hat, kann der Implantologe jetzt anfangen zu bohren. Sobald er die von ihm vorgesehene Implantattiefe erreicht hat, wird er visuell gewarnt. Das bedeutet jetzt für den Patienten: geringe traumatische Belastung."

Die Medizintechnik ist ein klassisches Betätigungsfeld für die Wirtschaftsförderung der Stadt Dortmund. Früh hatte sie zwei Einsichten: Erstens, dass die Arbeitsplätze in der Montanindustrie unwiderruflich verloren sind. Und zweitens, dass die Hochschulstadt Dortmund mit dem Schwerpunkt Natur- und Ingenieurswissenschaften auf Stärken von bleibendem Wert setzen muss.

"Das, was in Dortmund erfolgreich produziert oder entwickelt wird, welche neuen Branchen sich auftun: Das sind genau die Arbeitsplätze, die dort entstehen für die Kinder und für die Enkelkinder dieser Leute, die früher unter Tage oder im Stahlbereich gearbeitet haben. Wir wollen neue Strukturen aufbauen, die zukunftsträchtig sind,"

sagt Pascal Ledune, Sprecher der Wirtschaftsförderung Dortmund.

"Hey, sach ma, was hat diese Stadt, was keine andere Stadt hat? - Hör ma, dat is’ meine Heimat, verstehste dat? Nummer Eins im Revier, hier leb’ ich, und hier bleib’ ich. - Hier, nimm’ doch noch ’n Bier, denn davon ham wir reichlich. - Dortmund, ich komm’ aus Dir, Dortmund, ich häng’ an Dir. - Also, rein in die City, zur späten Abendstunde, wir machen heut’ was los, komm’, wir drehen noch ’ne Runde. "

Nicht nur aus, auch nach Dortmund kommen inzwischen viele. Dortmund hat außerdem viele junge Bürger, und die Arbeitslosenzahl (wiewohl immer noch bei knapp 15 Prozent) sinkt stärker als in jedem anderen Arbeitsamtsbezirk Nordrhein-Westfalens.

Gerade mal 25 Kilometer von Dortmund entfernt liegt am Schnittpunkt zweier Autobahnen die Stadt Herne.

"In Herne überleben nur die Harten, ich war bis heute hart genug. Hier gibt es Hände, groß wie Spaten, und hier spielt eigentlich das Dschungelbuch. Ich sage: Das Leben in Herne, das Leben ist schön…"

Herne gehört zu den großen Verlierern im Ruhrgebiet. Nach Herne kommen wenige Investoren. Und das - stellt Stadtsprecherin Jutta Daniel resigniert fest - war eigentlich immer schon so:

"Hier hat’s ja mal mit Shamrock die erste Zeche gegeben. Dann wurde daraus die große Hibernia, die Veba, E.ON - und E.ON ist weggegangen nach Düsseldorf. So sieht’s nämlich aus. Also immer dann, wenn sich solche Unternehmen modernisiert haben, dann sind sie hier aus dem richtigen Arbeitsbereich des Ruhrgebietes weggegangen an den Schreibtisch des Ruhrgebietes nach Düsseldorf oder auch Essen."

Anders als in Dortmund sinkt die Arbeitslosenquote in Herne nicht; Herne ist keine junge Stadt - und sie droht durch Abwanderung immer älter zu werden. Im Rathaus am Friedrich-Ebert-Platz schauen Jutta Daniel und Stadtplaner Bodo Steiner der Wahrheit ins Auge:

"Also, der Hauptgrund für Leute, Herne zu verlassen, ist der, dass sie woanders einen Arbeitsplatz haben. - Das sind die jungen, mobilen, gut ausgebildeten Leute. Zurück bleibt dann das, was weniger mobil ist, Leute, die ein gewisses Alter erreicht haben und diesen Schritt nicht mehr gehen können oder gehen wollen."

"Hier leben nicht nur kleine Leute, hier aß Heinz Rühmann schon Spiegelei. Wir hatten sogar schon mal ’nen echten Kreuzzug. Wanne-Eickel heißt heut’ Herne Zwei. Ich sage: Das Leben in Herne…"

Der Herner Stadtteil Wanne-Eickel gilt selbst in der Sorgenstadt noch als Sorgenkind. Die Wanner Fußgängerzone ist gesäumt von Spieltreffs, Trinkhallen und Schnäppchenmärkten. Am Glück-Auf-Platz blicken Realisten zwischen Trotz und Resignation in eine trübe Zukunft:

"Ach Quatsch, das ist sowieso alles Mist. Ist überall gleich. Das sieht doch überall so aus, oder nicht? - Wer kommt schon hierhin? Hier ist ja nichts mehr. - Ja, ich finde es einfach hier grausam. Die ganzen Jugendlichen hier, die kommen nur zu Drogen und versuchen zu klauen. - Also, ich finde die Aussichten hier mies."

Gute Aussichten bietet Herne Ulrich von der Linde, Chef eines traditionsreichen Arzneimittelvertriebs mit Hauptsitz in Düsseldorf. Zum Jahreswechsel will von der Linde seine neue Halle in Herne in Betrieb nehmen. Da wird es ähnlich zugehen wie in der Düsseldorfer Zentrale:

"Hier ist der Kernbereich unserer Anlage. Wir sehen jetzt die Befüllung: Das Band ist 70 Meter lang, und jetzt geht's darum, dass sich der Zentralbandabschnitt, wo die Produkte liegen, und die Kiste hier vorne treffen. Wenn einmal die Medikamente in der Kiste sind, kann ein Deckel drauf, und das Ding kann zum Kunden."

Mit schleifendem Geräusch fährt ein Roboter die Arzneimittel-Gänge auf und ab und sorgt dafür, dass die Medikamente in die richtigen Transport-Körbe fallen. Ulrich von der Linde verspricht 100 Vollzeit-Arbeitsplätze für Herne. Im Düsseldorfer Fuhrpark seines Unternehmens erläutert er sein Interesse an der Investition:

"Einige dieser Fahrzeuge haben wir jetzt auch aktuell beschriftet. Da steht drauf: Von der Linde-Arzneimittel bald noch schneller im Ruhrgebiet. Das ist für uns natürlich auch einer der entscheidenden Punkte, warum wir dieses neue Lager eben in Herne machen. Es ist im zentralen Ruhrgebiet, das ist wirklich das Herz - logistisch gesehen - eines Ballungsraumes mit über sieben Millionen Einwohnern."

Mit Autos und Bussen werden auch viele Mitarbeiter von der Lindes nach Herne pendeln. Manche wollen dorthin umziehen. Und dafür ist die Stadt bestens gerüstet. Denn Herne setzt, um attraktiver zu werden, auf Wohn- und Freizeitqualität. Seit einiger Zeit gibt es eine Künstlerzeche, auf stillgelegten Bergbau-Flächen sind Eigenheim-Siedlungen entstanden und ein Landschaftspark mit Radwegen durchs Ruhrgebiet - eine fünfköpfige Familie startet dort gerade zu einem Ausflug:

"’N bisschen mit dem Fahrrad hier zur Jahrhunderthalle runter, mal gucken, da kann man ja eigentlich schön fahren. Die Kinder sind beschäftigt - und wir auch. - Ja gut, von den Radwegen her ist es schöner geworden, das war früher nicht so möglich, ja, und eben dieses Grün. Das ist für die Kinder natürlich schöner, man muss nicht so aufpassen auf die Autofahrer. - Was machen Sie beruflich? - Ich bin Reinigungskraft. - Und Ihr Mann? Zurzeit leider arbeitslos."

Auch arbeitslos kann man die Landschaft genießen, klar. Aber natürlich wünscht sich die Stadt für ihre Bürger etwas anderes: Arbeit, Wohlstand und genug Geld, um Straßen zu sanieren oder Schulen und auch das Rathaus zu renovieren. Die Fördermittel, die Herne bekommt, reichen dafür nicht aus. Wenn sie an die Möglichkeiten anderer Regionen denkt, wird Jutta Daniel mitunter richtig wütend:

"Wenn ich dann erlebe auch im ‚neuen Osten’, wie dort der Wiederaufbau Gott sei Dank ja fortgeschritten ist, aber dann inzwischen sehe, wie in diesem Verhältnis viele Kommunen in Westdeutschland - und dazu gehört auch Herne - sich da abmühen und abstrampeln, dann werde ich gelegentlich schon mal zornig und erlebe mich auch so, wie ich die eigene Stadt so richtig verteidige."