Scheitern und weggehen

06.12.2010
Philipp Meyer beschreibt in seinem gefeierten Debüt den Niedergang einer Stahlarbeitergegend – und erzählt dabei in nüchternem Ton das Schicksal von Millionen Amerikanern: wirtschaftlich ausgebrannt, sozial isoliert, aber nicht vollkommen hoffnungslos.
Buell im Westen Pennsylvanias – dieses Nest gibt es nicht wirklich, aber das macht es noch einfacher, es an vielen Orten der Welt zu erkennen. Wieder einer dieser Orte, die bessere Zeiten gesehen haben. Vor über 20 Jahren gab es hier noch eine Schwerindustrie, die ganz Amerika versorgte, die dem Land in der Nachkriegszeit seine wirtschaftliche Stärke garantierte. Die Luft war schlecht, das Wasser verseucht und der Boden voller Gifte – aber die Leute hatten Arbeit.

Seit jenen Zeiten haben 150.000 Menschen ihren Job verloren. Entweder wurden sie zu Jägern und Sammlern oder einfach zu Sozialhilfeempfängern, wie es an einer Stelle im Roman heißt. Über alles hat sich "Rost" gelegt, oder "American Rust", wie der Originaltitel heißt. Hoffnung gibt es kaum mehr hier, einige Orte haben nicht nur ihren McDonald's verloren (die immer als letzte gehen), sondern sogar ihre Polizeistation, einige Bewohner leben schon in Wohnwagen, aber: Sie bleiben dennoch hier und warten ab. Worauf, das weiß niemand so genau.

Nur Isaac und Poe versuchen wegzukommen. Isaac hätte was werden können, er hätte studieren können, aber er ist da geblieben, versucht den Selbstmord seiner Mutter zu verarbeiten und pflegt seinen invaliden Vater, der vor Jahren einen Unfall im Stahlwerk erlitt und seitdem seinen Sohn tyrannisiert. Isaac ist klein und schmächtig - im Gegensatz zu seinem Freund Poe: groß, kräftig, etwas plump, mit Zeug zum Footballstar, aber dafür hätte er Buell verlassen müssen. So ist auch daraus wieder nichts geworden.

Die beiden machen sich eines Tages auf den Weg, aber schon in der ersten Nacht, in einer verlassenen, verrotteten Fabrik, tötet Isaac einen Obdachlosen, weil der seinen Freund Poe bedroht hatte.

Was dann folgt, sind moralische Verstrickungen, die nicht nur durch seltsam agierende Polizisten geprägt sind, sondern auch dadurch, dass Poe im Knast landet, nicht etwa Isaac. Poe fügt sich drein, letztlich hätte auch er in seinem Jähzorn diese Tötung begehen können. Im Knast denkt er, "dass dieser Ort auf ihn gewartet hatte. Sein Glück war aufgebraucht, jetzt lebte er sein Schicksal." Am Ende bekommen beide, Isaac und Poe, noch eine zweite Chance zu gehen, diesen Ort zu verlassen, aber ob sie die Chance annehmen, bleibt offen.

Philipp Meyer, Jahrgang 74, hat mit seinem Debüt in den USA Furore gemacht, Rezensenten von der "New York Times" bis zu "Washington Post" überschlugen sich, sahen einen neuen Salinger, einen neuen Cormac McCarthy, einen neuen Kerouac. Diese Euphorie ist nicht ohne Grund. Wir haben hier tatsächlich eine Great American Novel, die den Zeitgeist einfängt, die genau soziale Milieus beschreibt, der es im nüchternen Ton gelingt, große Bögen zu schlagen, die aus einem kleinen Ort heraus, aus einem erzählerischen Fokus auf einige wenige Figuren, die Krise eines ganzen Landes erzählen kann. Meyer verzettelt sich nicht, sondern bleibt konzentriert auf seine Figuren und auf sein Thema: Woran scheitern Menschen? Und was bringt sie wieder auf die Beine? Ein paar Antworten stehen in diesem grandiosen Roman, wenn auch versteckt, und einige wird man lange suchen müssen.

Besprochen von Vladimir Balzer

Phlipp Meyer: Rost
Aus dem Englischen von Frank Heibert
Klett-Cotta, Stuttgart 2010
464 Seiten, 22,95 Euro