Scheitern oder gelingen

Von Anke Petermann · 26.05.2008
Hessens Schulen sind für Politiker eine Dauerbaustelle mit gefährlichen Sicherheitsmängeln: Seit Jahrzehnten schwelt der ungelöste Streit zwischen Anhängern der Gesamtschule und Gegnern. Die Frontlinie zwischen links und konservativ spaltet Lehrer- und Elternverbände.
"Hessen hat eine ganz spezielle Tradition der intensiven, aggressiven Auseinandersetzung – ideologisch muss man auch sagen - in Bildungspolitik, die aus den siebziger Jahren herrührt und seitdem an Schärfe nicht gravierend nachgelassen hat,"

konstatiert das jüngste Opfer des Schulkampfs, die ehemalige Bildungsministerin Karin Wolff, CDU. Kurz vor der Wahl hatten Anfang des Jahres Tausende von Eltern an achtzig Schulen hessenweit gegen die Bildungspolitik der CDU-Alleinregierung protestiert – erbost über die seit 2004 schrittweise eingeführte, aber schlecht vorbereitete Gymnasialzeitverkürzung G 8, unzufrieden mit der sogenannten Unterrichtsgarantie plus.

"Unsere Kinder – mit denen wird einfach experimentiert, also es wird G 8 ausprobiert, und die leiden darunter, die müssen massenweise Hausaufgaben machen, die werden konfrontiert mit dem Stoff von neun Jahren, der muss in acht Jahren gewährleistet werden. Es ist zu viel, die Freizeit leidet darunter, und es ist nur noch Schule, Schule, Schule."

Die aufgebrachten Eltern und Lehrer waren maßgeblich daran beteiligt, die CDU und ihren Frontmann Roland Koch abzustrafen, analysierten die Wahlforscher später. Ein Zufallsbefragter am 27. Januar 2008, dem Tag der Landtagswahl:

"Ich bin im Schuldienst tätig und erleb‘ das vor Ort, was für eine Hektik, was für eine Unzufriedenheit an den Schulen herrscht, wir erleben das so, dass jeden Tag eine andere Sau durchs Dorf gejagt wird, und es ist klar, bei Änderungen wird natürlich was bewegt, aber das muss mit Ruhe und Augenmaß geschehen, und da setze ich auf ne neue Regierung."

Eine rot-grüne Minderheitsregierung wäre möglich gewesen, doch sie scheiterte an den Vorbehalten mancher Sozialdemokraten gegen eine Kooperation mit der Linken. Und so leben die Hessen nun mit einer Übergangsregierung ohne eigene Mehrheit und einer provisorischen Bildungspolitik, vertretungsweise mit übernommen von Justizminister Jürgen Banzer, CDU. Denn nach dem Ausscheiden von Karin Wolff darf der geschäftsführende Ministerpräsident Koch laut Verfassung kein neues Kabinettsmitglied berufen – es fehlt die parlamentarische Mehrheit, die ihm das Vertrauen aussprechen könnte. Und plötzlich, angesichts der unsicheren Machtverhältnisse, ist in der hessischen Bildungspolitik ganz viel von Dialog und Wahlfreiheit die Rede. Der amtierende Bildungsminister Banzer überlegt sogar, es neben den kooperativen, also schulformbezogenen Gesamtschulen auch den Gymnasien freizustellen, ob sie das Abitur nach acht oder neun Jahren anbieten. Banzer fügt an,

"... dass ich persönlich der Meinung bin, wir sollten das tun, aber das hat am Ende auch der Landtag zu entscheiden. Das ist meine Position in einer Diskussion, die begonnen hat, aber noch nicht zu Ende ist."

Der neue Minister von der CDU muss Politik gegen eine linke Mehrheit machen. Die Machtverteilung ist unklar, die Schulexperten im Hessischen Landtag zeigen die Samtpfötchen. Bildungspolitik mit der ideologischen Brechstange - das war gestern. Blick zurück: Ende der sechziger Jahre war "Bildung für alle" das Schlagwort. 1969 berief Ministerpräsident Albert Osswald den bis dahin parteilosen Soziologie-Professor Ludwig von Friedeburg zum Kultusminister. Der Wissenschaftler hatte zuvor gemeinsam mit Theodor W. Adorno das Frankfurter Institut für Sozialforschung geleitet. Als Bildungsminister schrieb sich der Admiralssohn auf die Fahnen, das dreigliedrige Schulsystem abzuschaffen. Ein System, das ihn als Spross einer adligen Militärsfamilie stets privilegiert und andere benachteiligt hatte. Als Etappe auf dem Weg zur flächendeckenden Gesamtschule führte der Kultusminister anstelle der Klassen fünf und sechs schrittweise die schulübergreifende Förderstufe ein - basierend auf dem kurz zuvor auch mit liberalen Stimmen beschlossenen Schulgesetz. Die Lehrer allerdings wurden auf die Herausforderung, Schüler aller Leistungsebenen gemeinsam zu unterrichten, kaum vorbereitet, für die geplanten Förder- Stütz- und "Liftkurse" fehlte das Geld. Kritik am mangelnden Erfolg der Förderstufe konterte von Friedeburg 1971 unter Verweis auf das große Ziel am sozialdemokratischen Horizont.

"Wenn die wichtigste Erwartung an die Förderstufe doch die ist, dass die Entscheidung über den Schulweg der Kinder nicht bereits im Alter von zehn Jahren getroffen werden soll, sondern dass – wie der Name sagt – in einer Förderstufe der Einzelne bestmöglich gefördert werden soll, eine möglichst große Orientierung über die weiteren Bildungswege erhalten soll, um dann seinen Neigungen, Begabungen und Fähigkeiten entsprechend, den für ihn richtigen Schulweg zu finden. In dieser Hinsicht hat sich die Förderstufe bewährt. Wir wissen beispielsweise aus den Landkreisen, dass ein erheblich größerer Teil der Kinder den Weg zu weiterführender Schulausbildung gefunden hat. Förderstufe wie Gesamtschule – das sind ja neue Ansätze, das Ziel kann nicht gleich schon im ersten Jahr erreicht werden."

Zumal sich das bis dahin überwiegend rote Hessen nicht so bereitwillig in die Bildungsrevolution stürzte, wie die Macher um den adeligen Sozialdemokraten und Schulerneuerer vielleicht angenommen hatten. Neben der Förderstufe besonders umstritten: die Rahmenrichtlinien für Deutsch, Gesellschaftslehre und Kunsterziehung – gesellschaftskritisch und emanzipatorisch angelegte Zielvorgaben für den Unterricht, lobten die Befürworter - "Instrumente neo-marxistischer Indoktrination", abgefasst in unverständlichem Soziologen-Deutsch – so viel stand für Konservative im Land fest. Bald lernten hessische Schüler nur noch "Marx statt Rechtschreibung", höhnte die hessische CDU in Broschüren. Aber nicht nur Erzkonservativen schwindelte es beim Blick auf die Bildungslandschaft im Umbruch:

"Ein Schulversuch, eine Reform jagte die andere. Mengenlehre, Sexualerziehung, Eingangsstufen für Fünfjährige an Grundschulen, Frühbeginn des Englischunterrichts an Grundschulen. Was Hessen von anderen Ländern unterschied, war vor allem der Zeitdruck und das Wagnis von Konzepten, die Eltern, Lehrer, Schüler, selbst die Schulverwaltung polarisierten,"

… schreibt der Bildungshistoriker Christoph Führ in seinem Abriss über hessische Schulpolitik bis Mitte der neunziger Jahre.* Details aus der zeit um 1970 schildert die Frankfurter Rundschau:

"Es war keine leichte Zeit für hessische Eltern. Statt dicker Mathe-Bücher mit Textaufgaben brachten die Schüler hektographierte Zettel voller rätselhafter Kreise nach Hause und baten um Hilfe bei einer "merkwürdigen Mengenlehre". Auf Elternabenden stritten Väter und Mütter mit hochrotem Kopf, wann und wie ihre Zöglinge in "Sexualkunde" aufgeklärt werden. Und im Fach "Gemeinschaftskunde" erklärten Junglehrer den Schülern, dass die Zeitung mit den großen Buchstaben, die ihr Vater abends mit nach Hause brachte, nichts anderes sei als ein verlogenes Unterdrückungsinstrument und zumindest boykottiert gehörte."

Bei der Landtagswahl 1974 bekam die SPD die Quittung für ihre Reformwut: nach herben Verlusten stieg die CDU erstmals zur stärksten Partei in Hessen auf, von Friedeburg musste gehen – auch auf Druck der Liberalen. Doch die sozialliberale Koalition blieb bestehen, zunächst unter Ministerpräsident Osswald, dann unter Holger Börner. Die Schulpolitik überließen beide Regierungschefs dem Juristen Hans Krollmann.

"Es war das Verdienst von Kultusminister Hans Krollmann (1974 – 1984), die Auseinandersetzung über Schulreformen durch eine mäßigend wirkende Konsolidierungsphase in ein ruhigeres Schritttempo zu lenken und allmählich zur Normalität zurückzukehren … "

… lobt der Bildungshistoriker Christoph Führ. Von den umstrittenen Rahmenrichtlinien seines Vorgängers rückte Hans Krollmann ab – unterstützt von der mitregierenden FDP, aber gegen den Willen großer Teile seiner eigenen Partei. Der Pragmatiker stoppte die Neugründung von Gesamtschulen. 64 waren bis dahin entstanden – oft planlos aus dem Boden gestampft. An der zähen Einführung der flächendeckenden Pflichtförderstufe, von der CDU stets als "Zwangsförderstufe" tituliert, hielt Krollmann aber fest. 1984 besuchten zwei Drittel der Elf- und Zwölfjährigen die über 300 neuen Regelschulen für diese Altersstufe. Im selben Jahr legte das Hessische Verfassungsgericht dem Schulminister auf, eine ausreichende gesetzliche Grundlage dafür zu schaffen. Den verlangten Gesetzentwurf brachte der Sozialdemokrat noch kurz vor Ende seiner Amtszeit im selben Jahr ein. Zum Zeitplan sagte er:

"… dass die Einführung der Förderstufe abgeschlossen sein soll per 1.8.1987."

Doch zuvor hatte der Wähler das Wort - die rot-grüne Zusammenarbeit unter dem Sozialdemokraten Holger Börner war gescheitert, die vorgezogene Landtagswahl vom April 1987 bescherte CDU und FDP eine hauchdünne Mehrheit. Walter Wallmann wechselte aus dem Amt des Bundesumweltministers von Bonn nach Wiesbaden. Mit ihm sein Staatssekretär Christean Wagner – als neuer Kultusminister. Wallman und Wagner leiteten sofort eine radikale Wende in der Schulpolitik ein - weg von der Förderstufe, weg von der Gesamtschule. "Schulfreiheitsgesetz" hieß das Projekt, das Eltern und Kindern die freie Wahl der Schullaufbahn nach Klasse vier versprach und im Landtag hitzige Debatten auslöste. Beteiligte: Bildungsminister Wagner, CDU, SPD-Mann Hartmut Holzapfel, ab Anfang der 90er selbst hessischer Bildungsminister, und Walter Korn, CDU-Landtagsabgeordneter:

Wagner: "Mit diesem Gesetzentwurf leisten wir einen wesentlichen Beitrag zu Schulfrieden. Die Bürger wollen diesen Schulfrieden in Hessen. Das Land braucht ihn. Und wir müssen ihn um der Kinder willen wieder herstellen."
Holzapfel: "Hessens Schulen haben es nicht verdient, dass sie als Beute eines 0,3%-Wahlsiegs verheizt werden sollen."
Korn: "Wir haben darüber 20 Jahre im Landtag diskutiert, dann gab es die Klage von 200.000 Eltern vor dem Staatsgerichtshof und zuletzt der Landtagswahlkampf 1987, es war also allen Eltern wohl bekannt, dass die Pflichtförderstufe sofort aufgehoben wird, wenn CDU und FDP die Wahl gewinnen. Wir stehen im Wort, und wir halten unser Wort."

Wahlfreiheit klang gut, von Eignung für bestimmte Schulformen, insbesondere für das begehrte Gymnasium, hatte die CDU im Wahlkampf zunächst nicht geredet. Doch ab Mitte 1988 kam der neue Kultusminister zur Sache, per Verordnung nämlich.

"Kernpunkte dieser Verordnung: Erstens: Für jeden Viertklässler wird ein Gutachten der abgebenden Grundschule erstellt. Zweitens: Wenn der Elternwunsch und die Schulempfehlung voneinander abweichen, gibt es einen Probeunterricht."
… so Rainer Dinges im Hessischen Rundfunk. Zwangsprobeunterricht als Prüfung für die Aufnahme ins Gymnasium - ein misslungener Auftakt für die angeblich neu gewonnene "Schulfreiheit" – Christean Wagner eckte damit beim Landeselternbeirat an und auch bei den eigenen Parteifreunden. Unter dem Titel "Harter Knochen" ätzte der Spiegel über den heutigen CDU-Fraktionschef im Wiesbadener Landtag:

"Kultusminister Wagner profiliert sich im Wallmann-Kabinett mit einer schulischen Gegenreform als rechter Scharfmacher. Der zackige Minister geht unbeirrt seinen Weg. Er hat nach dem Regierungswechsel in Hessen versprochen, die sozialdemokratische Bildungsreform zu beseitigen. Das Fach Gesellschaftslehre und die obligatorische Förderstufe sollen abgeschafft werden, die Gesamtschule soll zugunsten des dreigliedrigen Systems mit Gymnasium, Real- Und Hauptschule zurückgedrängt werden. Vieles, was der ‚Bildungsstürmer’ forsch anpackt, geht dem Koalitionspartner FDP zu fix - oder Wagner daneben."

Manches geht auch gar nicht: die Gesamtschulen komplett zu beseitigen, gelingt den Christdemokraten in der Regierungszeit bis 1991 und auch dem Kabinett Koch nach 1999 nicht, als Karin Wolff das Kultusministerium übernimmt. Wolff setzt aber alles daran, das dreigliedrige Schulsystem zu festigen, die Gesetze "zur Qualitätssicherung an Schulen", begleiten Hessen ins neue Jahrtausend: verschärfte Versetzungsregeln, die freie Schulwahl wird durch die sogenannte "Querversetzung" eingeschränkt: Die Gymnasien und Realschulen bekommen die Möglichkeit, Kinder zwangsweise in eine andere Schulform herunterzustufen, wenn die Eltern gegen das Votum der Grundschullehrer entschieden haben. Im Jahr 2004 wird die Querversetzung per Gesetz bis Ende der Klasse sieben ausgeweitet. "Rutschbahn nach unten perfektioniert" titelt die Frankfurter Rundschau. SPD-Oppositionspolitikerin Heike Habermann verweist auf die Studien, die Deutschland ein Höchstmaß sozialer Auslese in der Bildung bescheinigen:

"Pisa hat gefordert, die frühzeitige Selektion zu beenden und darüber nachzudenken, wie ich ein Schulsystem gestalten kann, das alle mitnimmt und keine frühzeitig zurück lässt. Die Antwort der hessischen Landesregierung ist: Zerschlagung der Kooperativen Gesamtschule, faktische Auflösung der Förderstufen und mit dem Mittel der Querversetzung ein weiteres Mittel, mehr Selektion in unseren hessischen Schulen einzuführen."

Womit die Christdemokraten nicht gerechnet haben dürften: die wenn auch nur noch in Grenzen freie Schulwahl, ist dabei, das dreigliedrige System zu sprengen, das sie festigen wollten. Denn, so Frankfurter Eltern von Gymnasiasten beim Bildungsprotesttag gegen die Regierung Koch kurz vor den Landtagswahlen:

"50 % schicken ihre Kinder aufs Gymnasium, weil sie wissen, dass nur mit Abitur so richtig was zu machen ist. De facto ist das dann natürlich eine Art Gesamtschule geworden, ohne die Mittel der Gesamtschule zu haben."

Die Hauptschule dagegen ist abgewählt: nur 55 Hauptschul-Anmeldungen liegen für die hessische Landeshauptstadt Wiesbaden vor, nur 150 für die Großstadt Frankfurt am Main. Von Schließungen wird gemunkelt. Die CDU wiederholt ihr Mantra, dass man zwar Hauptschulen abschaffen kann, aber nicht die Hauptschüler. SPD, Grüne und die neu im Landtag vertretene Linke dagegen setzen auf längeres gemeinsames Lernen bis Klasse zehn. Die linke Mehrheit im hessischen Landtag könnte das gegen die geschäftsführende Regierung Koch durchsetzen. Doch wie – darüber streiten Rote, Grüne und Dunkelrote derzeit noch.