Scheinheilige unter sich

Von Michael Laages · 28.05.2013
Mit einer routinierten Inszenierung verabschiedet sich Luc Bondy von Wien. Während die Schauspieler überzeugen, gelingt eine wirklich zeitgenössische Befragung von Motiven und Methoden forcierter Heuchel-Kunst dagegen nicht. Tartuffe bleibt der ruchlose Betrüger und Herr Orgon der Depp.
Er hat sich gar nicht trennen mögen. Immer wieder trat Luc Bondy mit dem Ensemble in den gar nicht so euphorischen Beifall des Publikums im Akademietheater; so unablässig, dass sogar das Solo-Lob für das Personal ausfiel. Dabei hätten die bekanntermaßen extrem Star-vernarrten Wiener Edith Clever und Gertraud Jesserer, Gert Voss und Joachim Meyerhoff sicher gerne noch ein wenig höher leben lassen wollen, aber dann kam halt Bondy immer wieder; und als er ging, war Schluss - Jubelstürme sehen anders aus. Und der Regisseur hat sich halt auch mit einer Inszenierung verabschiedet von "seinem" Festival, die über die (absehbaren) Meisterschaften der Schauspielerei nicht wirklich hinausgelangte.

Das ist ja öfter so in den Produktionen des Burgtheaters – auf die Klasse des Ensembles ist quasi immer Verlass, auf die der Regiekräfte nicht notwendigerweise. Gute Absicht allein genügt da nie – und auch dieser "Tartuffe" hat ja immerhin und unübersehbar ein Ziel. Ein rundum überzeugender Weg dahin ist aber nicht in Sicht.

Fürs Programmfaltblatt hat die Dramaturgie einen sozusagen "molierischen" oder "tartuffischen" Fall aus dem vorigen Jahr aufgetrieben; als ein gerissener Heuchler und Betrüger eine Familie von älterem Adel ins Unglück stürzte. Die Masche funktioniert also noch; und Bondy zeigt den in Molières Original vor knapp 350 Jahren betrogenen Herrn Orgon als heute zu Reichtum und Würde gelangten Elite-Menschen, der aber mal ein Ex-Aufrührer war, der früher gegen die Herrschaft im Lande opponierte und nun vielleicht ein Unternehmen leitet: fein, elegant, an alten Maximen hausväterlicher Macht hängend – aber angesichts der mäßig moralischen Verirrungen moderner Zeiten verführbar für einen frömmelnden Heuchler, einen schmierigen Secondhand-Apostel. Dem gibt Bondy sogar noch einen (meist im Stück gestrichenen) Diener bei, der hier ein hübscher Knabe ist und den Herrn Tartuffe auch noch als potenziell pädophilen Popen erahnbar werden lässt. Schlimmer also geht's nimmer.

Auch sonst ist dieser Tartuffe äußerst viril und hormongesteuert hinter Frau Elmire her, der Gattin des schwerst verblendeten Hausherrn – zur Enttarnung kurz vor Schluss hat er sich schon der schwarzen Büßerkluft entledigt und in Erwartung erotischer Freuden den Bademantel angelegt. Die beiden Männer und die Frau dazwischen: Das Trio trägt den Abend. Der Orgon von Gert Voss lebt bürgerlichen Furor aus – und wird zum Schluss zum ganz armen Würstchen, das nicht glauben mag, wie schlecht der Mensch sein kann. Joachim Meyerhoff als Tartuffe lässt durch einige Skrupel bald den Machtmensch und Erotiker erkennen, um am Schluss genau so ratlos wie Opfer/Täter Orgon der eigenen Enttarnung beizuwohnen. Johanna Wokalek schwirrt in wehenden Kleidchen zwischen beiden – und leider traut Bondy ihr (und Meyerhoff) zwar ansatzweise einige Akrobatik im Kampf der Körper zu, aber kein echtes Abenteuer; da war Dimiter Gotscheff vor Jahren in Salzburg und am Hamburger Thalia Theater weiter gekommen, als Frau Elmire wirklich dem Heuchler verfiel und der erschreckender Weise vielleicht sogar Recht hatte mit der Ablehnung des geist- und ziellosen Unterhaltungswahns, dem die Welt verfallen ist. In Wien bleibt Tartuffe auch in modernem Outfit der ruchlose Betrüger, der er immer war, und Herr Orgon wie immer der Depp.

Wirklich zeitgenössische Befragungen von Mitteln, Motiven und Methoden forcierter Heuchel-Kunst gelingen in Wien also nicht; die Verführung durch und zum Fundamentalismus, die das Thema sein müsste für Zeitgenossen heute, wird als Struktur nicht unbedingt kenntlich. Immerhin hat Bondy Gertraud Jesserer als Madame Pernelle, Orgons greise Mutter, deutlich mit ins Zentrum gerückt – sie ist ja die einzige echte Fundamentalistin im Hause und terrorisiert die liberale Familiengemütlichkeit. Schon mit Edith Clevers Dorine, der "Perle" im Haushalt, beginnt die Routine im Ensemble; und sogar gelegentliche Langeweile angesichts vieler arg durchsichtiger Schablonen. Schöne Routine, aber auch ganz ohne prägende Spielidee ist auch Richard Peduzzis edler Bühnen-Salon – so sieht der ganze Abend aus.

Und so wird das Wiener Publikum "seinen" Bondy in Erinnerung behalten: routiniert und edel. Vielmehr hat es womöglich auch gar nicht von ihm gewollt – und "sein" Festival, die "Festwochen", waren und sind künstlerisch stets innovativer als Bondy selbst. Er blieb stets der Ermöglicher – und auch das ist ja eine Qualität von Rang.