Schauspielhaus Hamburg

Schwarze Augen und drei starke Frauen

Von Alexander Kohlmann · 17.11.2013
Mit "Schwarze Augen, Maria" von der Theatergruppe Signa und "Drei starke Frauen" nach dem Roman von Marie NDyane eröffnet die neue Intendantin am Deutschen Schauspielhaus in Hamburg, Karin Beier, die Spielzeit. Die beiden Theaterstücke könnten kaum unterschiedlicher sein. Die Performance-Gruppe Signa zeichnet ein Bild von pychiatrischen Einrichtungen und dem Leben behinderter Menschen. "Drei starke Frauen" versetzt die Zuschauer auf die Seite des Zauns, der die Wohlstandsfestung Europa gegen den Rest der Welt abgrenzt.
Dass sie so losgeht, hätte wohl keiner erwartet, die erste Spielzeit von Karin Beier am Deutschen Schauspielhaus in Hamburg. 40 Zuschauer warten auf dem Hof einer seit Jahren leerstehenden Schule auf Einlass zum "Tag der offenen Tür" des Hauses Lebensbaum. Sechs Familien leben hier seit zehn Jahren in einer Art betreutes Wohnen, völlig abgeschottet von der Öffentlichkeit.
Zum Spielzeitbeginn öffnen die mehr oder minder schwer behinderten Kinder die Türen und bitten die Zuschauer hinein in ihr verwunschenes und schäbiges Reich. Siffige Gardinen hängen vor den Fenstern. Unter Anleitung des Psychiaters Dr. Marius Mittag kommen die Bewohner zum schiefen Begrüßungschor zusammen, bevor die Zuschauer in kleine Gruppen aufgeteilt werden, mit denen es dann in eine von sechs Gastfamilien geht.
Materialisierung eines Albtraums
Der penetrante Geruch nach Essen im ganzen Haus und die klaustrophobische Enge der Quartiere, in der hier angeblich mehrköpfige Familien wohnen, schockiert, ebenso wie die düstere Vergangenheit. Die wird offenbar, wenn man ein wenig stöbert und immer wieder auf Zeitungsartikel eines schweren, traumatisierenden Autocrashs stößt, mit dem eine verrückte Dänin vor vielen Jahren die Einwohner dieses Hauses in einen Trance-Zustand gestoßen hat: dem schwarze Augen - Syndrom, das fast alle Kinder dieser Einrichtung kennzeichnet.

Die Performance-Gruppe Signa schafft in “Schwarze Augen Maria” eine Parallelrealität, deren Sog man sich in der vierstündigen Performance nicht entziehen kann. Nach drei Stunden in jenem Haus passt auch der abgeklärteste Besucher sich an, nimmt die Ärzte als Ärzte und die Bewohner als krank und verletzlich wahr. Eine beunruhigende Erfahrung ist das, wenn die Theaterrealität wider besseres Wissen so real anmutet, dass es schwer fällt sich zu entziehen.
Umso fragwürdiger ist das Bild, was Signa hier von pychiatrischen Einrichtungen und dem Leben behinderter Menschen zeichnet. Dem jahrzehntelangen Bemühen zahlreicher Organisationen eine Entstigmatisierung seelischer und körperlicher Beeinträchtigungen zu erreichen, haben die Künstler mit der Materialisierung dieses Albtraums jedenfalls einen Bärendienst erwiesen.
In den Tod stürzende Flüchtlingsmassen
Fast schon froh ist man nach dieser Erfahrung, dass man bei der zweiten Premiere brav im Zuschauerraum sitzen und auf das Bühnengeschehen gucken darf (Regie: Friederike Heller). Die Dramatisierung des Romans "Drei starke Frauen" von Marie NDyane versetzt uns auf die andere Seite des Zauns, der die Wohlstandsfestung Europa gegen den Rest der Welt beschützt. Die bunkerartige Halle des Mahlersaals hat Bühnenbildnerin Sabine Kohlstedt mit einer riesigen, nicht transparenten Metallwand in zwei Teile geteilt.
Wie die früheren DDR-Sperranlagen am Berliner Bahnhof Friedrichstraße sieht das aus, auch wenn da ein Regime Menschen nicht raus, statt nicht rein lassen wollte. An der letzten Bastion vor Europa verhört ein Frontex-Mitarbeiter (Peter Thiessen) eine der flüchtigen Frauen (Bettina Stucky), lässt sich erzählen wie sie von ihrer Familie nach Europa geschickt wurde und nach einer langen entbehrungsreichen Wanderung im letzten Moment von der Spitze des meterhohen Zaunes in den Tod stürzte.
Dabei schien der gesegnete Kontinent schon ganz nahe, als sich das riesige Metallgitter kurz nach Innen öffnete und es durch den Spalt verheißungsvoll schimmerte. Ein berührender Abend ist das, dessen Einzelschicksal-Erzählung vor allem durch die Bilder einer Überwachungskamera von unserer gemeinsamen EU-Außengrenze beglaubigt wird. Wenn man dort die Flüchtlingsmassen sieht, die über Stacheldraht und meterhohe Zäune steigen, teilweise abstürzen und liegenbleiben, kann das Theater hier nur als eine weitere Aufforderung zum längst überfälligen Handeln begriffen werden.