Sex, Brutalität und der Kampf um die Deutungsmacht
"Im Herzen der Gewalt" von Édouard Louis setzt sich mit Herkunft, Rassismus und Homophobie in der Gesellschaft auseinander. Die Inszenierung von Thomas Ostermeier an der Berliner Schaubühne überzeugt - mit den Schauspielern und Prägnanz im Komplexen.
Gerade hat Édouard Louis mit Freunden, darunter Didier Eribon, in Paris Weihnachten gefeiert. Auf dem Heimweg wird er von einem jungen Mann angesprochen, die Anziehung ist spürbar, er nimmt ihn mit in seine Wohnung. Ihre spontane, innige Liebesnacht schlägt urplötzlich in Gewalt um, als Édouard nach dem Duschen sein iPad aus Redas Manteltasche hervorlugen sieht. Die Situation eskaliert, Reda vergewaltigt Èdouard, würgt ihn, bedroht ihn mit einer Pistole.
In dieser Geschichte steckt weit mehr als eine individuelle Gewalterfahrung. Reda ist Algerier, er hat Louis in den noch harmonischen Stunden vom Aufwachsen als Einwandererkind in Frankreich erzählt. Reda steckt voller Selbsthass und Homophobie, gespeist durch den Rassismus der französischen Gesellschaft.
Louis, selbst aus einfachen Verhältnissen stammend, sieht sich in Reda gespiegelt, sucht nach Erklärungen für dessen Diebstahl – macht bei Polizei, Ärzten und Psychologen aber die Erfahrung, dass ihm seine Geschichte und ihre Wahrheit abhanden kommt, dass Reda dort allein auf den Täter "maghrebinischen Typus" reduziert wird.
Wer hat die Hoheit über die Narration?
Wer hat die Deutungsmacht über die Geschehnisse, wer hat die Hoheit über die Narration – das ist es, was Ostermeier an diesem Stoff und an der Erzählweise des Buchs so brennend interessiert.
Édouard Louis hat sich nach der Tat zu seiner Schwester Clara in die nordfranzösische Heimat, in die Provinz, geflüchtet. Versteckt hinter der Wohnzimmertür belauscht er, wie sie ihrem Mann den Mordversuch schildert. Eine stark verschachtelte Erzählung, immer unterbrochen von Louis' Gedanken, zersplittert und unchronologisch.
Die vielfältigen Perspektiven behält Ostermeier auf der fast leeren Bühne bei. Diese gleicht einem Tatort, an dem Beweismittel gesammelt werden, um die Wahrheit der Geschichte gänzlich zu erforschen.
Laurenz Laufenberg und Renato Schuch schlüpfen in die Rollen von Édouard und Reda, spielen mit teils krassem, blutigem Realismus deren Zusammentreffen – stets durchzogen und kommentiert von Claras und Édouards Zweifeln, Nachfragen, Einwänden, von den Befragungen der Polizisten, der Untersuchungen der Ärzte.
Ein polyphones Stimmengewebe, das mit dem Live-Schlagzeuger Thomas Witte und Sébastien Dupoueys melancholischen Tristess-Videos in schwarz-weiß an zusätzlichen Ebenen gewinnt. Wichtiger als die vorproduzierten Filme sind allerdings jene Selfie-Videos, die die Spieler mit ihren Handys live drehen: Nahaufnahmen, die Intimität erzeugen. Denn jeder Rollentausch, alle Zersplitterung ist hier mehr als nur formverliebtes Verwirrspiel – es verdeutlicht die so unterschiedlichen sozialen Verortungen der Figuren und ist zudem realistische Wiedergabe einer Zerrissenheit zwischen Täter und Opfer, Hass und Empathie.
Herausfordernd viele Ebenen
Allen Ebenen zu Folgen, allen Argumenten gedanklich nachzugehen, ist eine Herausforderung – aber eine lohnende. Mit jeder gedanklichen Wendung, mit jedem neuen Puzzleteil werden hier die eigenen Stereotype und jene der Gesellschaft hinterfragt. Ostermeier inszeniert Louis’ Geschichte nicht als abstrakten soziologischen Essay, sondern setzt auf Einfühlung – bei gleichzeitigem "Eindenken".
Die kluge Fassung, die er zusammen mit dem Autor für die Bühne entworfen hat, beinhaltet alle essentiellen Gedanken und Fragestellungen des Buches – vom gesellschaftlich verankerten Rassismus, der Scham über die eigene Herkunft, bis hin zur Kritik an den Polizisten, die Louis, wie er sagt, seine Geschichte "gestohlen" haben. In der Verdichtung kann die Inszenierung sogar mehr in Bann ziehen als die Vorlage – eine äußerst seltene Erfahrung bei Roman-Adaptionen.
Das liegt auch an den ausnahmslos kraftvollen Schauspielern: Laurenz Laufenberg ist Édouard Louis nicht nur wie aus dem Gesicht geschnitten, er gibt ihn auch als anrührende Mischung aus naiv-unerfahrenem und gleichzeitig völlig unpragmatischem Jüngling, dem es wahrlich an der erfrischenden Bodenständigkeit seiner Schwester fehlt, die Alina Stiegler leicht prollig aber eben auch ehrlich direkt und lebensklug spielt. Renato Schuchs Reda ist ebenfalls nicht leicht zu fassen, wie er zwischen zärtlichem Liebhaber und Gewalttäter sekundenschnell hin und her switcht. Christoph Gawenda gibt dem Affen manches Mal etwas zu viel Zucker, wenn er den rassistischen Polizisten oder Louis’ heulende Mutter beinahe schon parodiert – aber zumindest sind damit ein paar leichtere Momente an diesem nicht eben fröhlichen Abend gesichert.
Keine überflüssige Szene, kein Wort zu viel
Zwei Stunden lang folgt man dem Aufblättern der Geschichte hoch konzentriert – keine überflüssige Szene, kein Wort zu viel. Eine deutlich komplexere, ästhetisch ausgereiftere Inszenierung als Ostermeiers Adaption von Didier Eribons "Rückkehr nach Reims".