Schatzkammer der Nation

Von Michael Marek |
Im Oktober 1975 bekam der "Stollen Barbara" in Oberried, 15 Kilometer südöstlich von Freiburg, eine neue Funktion. Hier wird seit 30 Jahren das politisch-kulturelle Gedächtnis der deutschen Nation verwahrt.
Hartmut Weber: "... er wurde eingerichtet, um die Bedingungen der Haager Konvention von 1954 zu erfüllen, dass die Signatarstaaten geeignete, vorbeugende Maßnahmen zu ... "

Roland Stachowiak: "Ich bezeichne mich im Freundeskreis schon mal spaßeshalber als Gralshüter der deutschen Kultur, weil ich arbeite für den Oberrieder Stollen, also dem Endlager der deutschen Kultur. Natürlich sehe ich meine Rolle ..."

Uwe Schaper: "Was Menschen daraus lernen, erfahren können, vermag ich nicht einzuschätzen. Aber, ich denke auch, dass wir dort einen guten Querschnitt unserer Nachwelt dort hinterlassen ... ein Bild davon, wie wir unsere eigene Geschichte …"

Franz-Josef Winterhalter: "Es hängt davon ab, wie sich die nächsten 1000 Jahre entwickeln werden. Wenn die ohne große Brüche verlaufen, dann wird der Inhalt des Stollens nicht von großer Brisanz und Bedeutung sein. Sollten aber zwischen ..."

Hans Meyer: "Es gibt eine ganze Reihe von Sicherungen. Und wer sich auskennt, wie Privatanwesen gesichert werden, ist das analog nicht anders ... Zahlencode ... wenn unberechtigte Personen eintreten und nicht ..."

Oberried, 15 Kilometer südöstlich von Freiburg:

Hier, in der badischen Provinz, wird das kulturelle und politische Vermächtnis der deutschen Nation verwahrt. Wo früher Silber geschürft wurde, lagern heute in einem stillgelegten Bergwerksschacht über 1,4 Milliarden Mikrofilmphotographien, auf denen bekannte und unbekannte Dokumente deutscher Geschichte gespeichert sind. In Edelstahlcontainern verpackt, geschützt vor saurem Regen und radioaktiver Strahlung. Sie sollen einmal Zeugnis über Leben, Denken und Wirken unserer Zivilisation ablegen, wenn Deutschland längst von der Landkarte verschwunden sein wird.

Winterhalter: "Auf der Landesstraße 126 von Freiburg in Richtung Todtnau, im Schwarzwald. Die Straße verläuft im Talgrund, Richtung Berg. Und jetzt kommen wir gleich an eine ganz unscheinbare Abzweigung. Da ist kein Hinweis, nichts, ein kleines Kehrsträßchen. "

Franz-Josef Winterhalter ist seit 16 Jahren Bürgermeister in Oberried - jener Gemeinde, die den "Zentralen Bergungsort der Bundesrepublik Deutschland" beherbergt. So jedenfalls lautet die amtliche Bezeichnung des Archivbunkers:

Winterhalter: "Und das führt in ein kleines Seitental. Das Tal hat den Namen ‚Hörnergrund’. Es steht auch 'Hörnergrundweg'. Es gibt keinen Hinweis auf das Besondere, was sich in diesem kleinen Seitental verbirgt. "
Autor: "Wir müssen jetzt eine leichte Anhöhe weiter nach oben fahren! "

Winterhalter: "Das sind alte Bergwerkshäuser aus der Zeit Anfang des 20. Jahrhunderts. Wir kommen jetzt auf einen Privatweg, da steht ‚Unbefugten Zutritt verboten’. Da geht es zum Stollen, ein Waldweg, keine Hinweise auf Besonderheiten. "

Autor: "Der Waldweg selbst ist sogar nicht einmal asphaltiert. Man hat auf eine Asphaltierung hier verzichtet? "

Winterhalter: "So ist das! So sieht jeder andere Weg bei uns im Wald auch aus. "

Autor: "Ist das hier ein normaler Wanderweg? Sind hier auch Wanderer, die zufällig vorbeikommen? "

Winterhalter: "Nein, das ist eine Sackgasse, deswegen läuft da normalerweise niemand durch. "

Autor: "Oder nur die, die Bescheid wissen? "

Winterhalter: "So ist das. Normalerweise läuft hier niemand hier hoch und endet hier mitten Wald im Nichts. Und nun ist der Stollen oben, schau’ schau’! "

Autor: "Dass der Stollen heute hier offen ist, ist das reiner Zufall? "

Winterhalter: "Das ist Zufall! "

Autor: "Normalerweise hat er zu und verschlossen zu sein? "

Winterhalter: "Ich gehe davon aus, dass wir hier keine besonderen Vorkommnisse stattfinden. "

Autor: "Dann steigen wir hier ‚mal aus und schauen uns den Eingang an! "

Bis Anfang der neunziger Jahre wussten nur wenige, dass sich im
Schwarzwald eine Einlagerungsstätte befindet für unwiederbringliche Dokumente. 1972 hatte das damalige Bundesamt für Zivilschutz mit dem Stollenausbau begonnen, Ende Oktober 1975 wurden die ersten Mikrofilmbehälter eingelagert – unter strikter Geheimhaltung gegenüber der Bevölkerung und den Medien. Lange Zeit kursierten Gerüchte in der Bevölkerung. Von Munitionseinlagerungen war die Rede und von einer geheimen militärischen Befehlsstelle:

Winterhalter: "In den ersten Jahrzehnten des Betriebes wurde die ganze Angelegenheit so etwas wie eine geheime Kommandosache betrieben. Nicht einmal die Gemeindebehörde wurde davon unterrichtet, wenn irgendwelche Einlagerungen an Archivmaterialien vorgenommen wurden [...] Seit der Wende, seit der Kalte Krieg zu Ende ist, geht man mit den Dingen etwas öffentlichkeitsbewusster um. Auch das Bundesamt für Zivilschutz bemüht sich eben, einer breiteren Öffentlichkeit diesen Stollen zu präsentieren. Und mittlerweile sind die Bürger auch stolz darauf, einen derartigen wichtigen Kulturschatz, wenn man so will, in der Gemeinde zu haben. "

Ausgebaut wurde der Stollen "Barbara" nicht für die Einlagerung von Kunstwerken, Büchern oder Urkunden - bewahrt werden hier: Mikrofilme.

Seit 1961 wird in der Bundesrepublik die Sicherungsverfilmung von Archivalien durchgeführt. Das sind schriftliche oder graphische Zeugnisse deutscher Geschichte, die nur als Original, also in einem einzigen Exemplar existieren. Die Vernichtung solcher Unikate würde einen unwiederbringlichen Verlust bedeuten. Sei es durch bewaffnete Konflikte, Naturkatastrophen, Tintenfraß oder Papierzerfall.

Der offizielle Beispielkatalog verfilmter Archivalien zählt folgende schützenswerte Dokumente auf:

Die Baupläne des Kölner Doms, die Bannandrohungsbulle von Papst Leo X. gegen Martin Luther, ein eigenhändiges Schreiben von Voltaire an Herzog Karl Eugen von Württemberg, den Vertragstext des Westfälischen Friedens und das Protokoll der Wannsee-Konferenz. Hartmut Weber, Präsident des Bundesarchivs, über den Oberrieder Stollen:

Weber: "[...] Er wurde eingerichtet, um die Bedingungen der Haager Konvention von 1954 zu erfüllen, dass die Signatarstaaten geeignete, vorbeugende Maßnahmen zur Sicherung des Kulturgut gegen die absehbaren Folgen eines bewaffneten Konfliktes treffen. Und ein vorbeugender Kulturgutschutz war nur möglich, mit der Konzeption eines 'Zentralen Bergungsortes'. Er wurde eingerichtet, um dort Filme von schützenswerten Archivalien unterzubringen, dass sie ohne große Pflege tausend Jahre überdauern können. Man muss ja auch daran denken, dass dieser Ansatzpunkt 'bewaffnete Konflikte' durch die Bundesregierung schon in den achtziger Jahren verändert worden ist, dass man auch den Oberrieder Stollen gesehen hat und die Sicherungsverfilmung gesehen hat als Krisenmanagement in Bund und Ländern zur Bewältigung großflächiger Gefahrenlagen. Da hat man hauptsächlich Tschernobyl im Auge gehabt. Später und heute würde man sagen, dass die Hochwasserkatastrophen 2002 eine solche Gefahrenlage darstellen, in der sich die Sicherungsverfilmung als sehr sinnvoll erweisen kann. "

Gerade in Kriegszeiten wurden Kulturgüter immer wieder bedenken-
los vernichtet, um Gegner zu demütigen und zu demoralisieren. Unersetzliche Werke sind auf diese Weise der Menschheit verloren gegangen:

1914 zerstörten deutsche Truppen die berühmte Universitätsbibliothek im belgischen Leeuwen mit ihren mittelalterlichen Handschriften.

Sarajevo 1992:

Die von den Türken erbaute Nationalbibliothek mit ihrer weltweit einzigartigen Buchsammlung wird auf Befehl von Radovan Karadzic in Brand geschossen.

Afghanistan 2001:

Das Taliban-Regime lässt im Hochtal von Bahmian die beiden einzigartigen Buddha-Statuen sprengen.

1954 hatten die Vereinten Nationen 1954 ein Abkommen zum Schutz von Kulturgut ins Leben gerufen:

Darin verpflichten sich die Unterzeichnerstaaten, im Kriegsfall Denkmäler und Bibliotheken, historische Dokumente und Archive weder zu zerstören noch sich widerrechtlich anzueignen. In Friedenszeiten wird den Mitgliedsländern auferlegt, nationales Kulturgut zu sichern und zu bewahren. Bis heute sind dem Abkommen 103 Staaten beigetreten. Die Bundesrepublik hat das Abkommen 1967 ratifiziert. Guido Carducci leitet die Abteilung kulturelles Erbe und Kulturgüterschutz bei der UNESCO in Paris:
Guido Carducci: "Die Haager Konvention resultiert aus der ganz enormen Vernichtung von Kulturgütern während des Zweiten Weltkriegs. Der Vertrag dokumentiert den Willen der internationalen Gemeinschaft, solche Zerstörungen zukünftig zu verhindern. Wir haben allgemeine Schutzbestimmungen, nach denen Kulturgüter definiert sind. Und diese Schutzbestimmungen sind schon ausreichend. "

Inzwischen hat der Wachdienst, der die Stollenanlage im Auftrag des Bundesinnenministeriums vor Ort betreut, die Alarmanlage entsichert:

Feuchte, kühle Luft schlägt dem Besucher durch das vergitterte Eingangstor entgegen, das Herr Meyer vom Wachdienst öffnet. Dahinter führt ein dunkler Tunnel tief in den Berg. Der Boden des Stollens ist betoniert, kaltes Neonlicht reflektiert von den geweißten Wänden. Die Temperatur beträgt konstant zehn Grad Celsius – Sommer wie Winter. Die relative Luftfeuchtigkeit liegt bei durchschnittlich 75 Prozent:

Autor: "Jetzt sieht das beim Betreten des Stollens ja kaum gesichert aus. Man sieht ein Eisentor. Was für Sicherungen gibt es hier noch? "

Meyer: "Es gibt eine ganze Reihe von Sicherungen, und wer sich von der Sache her auskennt, wie Privatanwesen abgesichert werden, ist das hier analog nicht anders. Aber es sind natürlich noch ein paar Sicherheitsprobleme zwischengeschaltet, dass man noch bestimmte geistige Verschlüsse noch zusätzlich hat, indem Sie einen bestimmten Zahlencode eingeben müssen, dass Sie dann den Stollen öffnen können. Oder dass bestimmte Einrichtungen vorhanden sind, die funktionieren werden, wenn eine unberechtigte Person hier eintritt, dass sie nicht mehr die Möglichkeit hat, dann ungehindert nach Außen zu kommen. "

Autor: "Hat es jemals eine Drohung gegeben, hier Sprengungen vorzunehmen, einen Anschlag, irgendetwas, hat es etwas gegeben in der Zeit, in der Ihre Firma für die Bundesrepublik hier arbeitet? "

Meyer: "Nein! Sie müssen natürlich davon ausgehen, dass erst in den letzten Jahren hier eine recht gute Öffentlichkeitsarbeit durchgeführt wurde, weil es so war, dass vor zwei, drei Jahren viele Leute vom Ort selbst nicht einmal wussten, dass hier so eine Einlagerung stattfindet und welches Gut hier gelagert wird. Deswegen war das nicht bekannt, und was nicht bekannt ist, kann man auch nicht angreifen. Also, damit haben Sie diese Probleme nicht. Das könnte einmal auf uns zukommen. Und dann gibt es Maßnahmepläne, die abgearbeitet werden, wie alle anderen Objekte. "

Zuständig für die "Schatzkammer der Nation" ist das Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe, die Fachaufsicht obliegt dem Innenminister, in Fragen des internationalen Kulturgutschutzes ist das Auswärtige Amt federführend. Auf die heutige Nutzung des Stollens weist lediglich ein oberhalb des Zugangs angebrachtes Schild hin:

Es zeigt drei nach unten spitz zulaufende Embleme in den Farben Ultramarinblau und Weiß.

Damit ist ausgewiesen, dass hier gemäß der Haager Konvention unter Sonderschutz stehendes Kulturgut bei bewaffneten Konflikten lagert ein Schutz, der weltweit nur fünf Objekten zuerkannt wird: Der Vatikanstadt, drei Lagerungsorten für Kulturgut in den Niederlanden und eben dem "Zentralen Bergungsort der Bundesrepublik Deutschland". Eine Aufschrift findet sich hier im Wald bei Oberried ebenso wenig wie ein Hinweisschild auf den Eingang des Stollens.

Fast alle europäischen Länder sind wie die Bundesrepublik dabei, eigene Archiv- und Bibliotheksbestände auf Sicherungsfilm zu übertragen. Doch bis auf die Bundesrepublik und die Schweiz gibt es keine vergleichbaren Endlagerungsstätten. Mit Ausnahme der Mormonen in den Vereinigten Staaten, die in den Rocky Mountains bei Salt Lake City ebenfalls über einen riesigen Archivstollen verfügen - zwecks Dokumentation der Ahnenreihe.

Aleida Assmann: "Natürlich, mit jedem Archiv ist das Problem der Monopolisierung des Blicks auf die Vergangenheit verbunden. "

Aleida Assmann ist Literaturwissenschaftlerin und arbeitet als Professorin an der Universität Konstanz. Sie beschäftigt sich seit vielen Jahren mit Fragen zum Gedächtnis, mit Problemen der Erinnerungs- und Geschichtspolitik:
Assmann: "Wer entscheidet, was ins Archiv kommt und was nicht, hat nicht nur ein Vergangenheits- sondern auch ein Zukunftsmonopol, weil man ja in der Zukunft angewiesen ist auf die Fülle dessen, was überhaupt überliefert ist, was eine Chance hatte erhalten zu werden [...] Wir bewegen uns hier in einem Zwischenraum zwischen einer sehr stark staatlich monopolistischen Ausrichtung. Das wäre das Modell der Diktatur, wie es schon George Orwell in ‚1984’ beschrieben hat. Das Regime entscheidet eigentlich, was ins Archiv kommt. Und es darf nicht ins Archiv kommen, was irgendwie der Gegenwart widerspricht. Das ist das ultimative Monopol. Und auf der anderen Seite ist es die Beliebigkeit dessen, was gerade einem Herrn X oder Y als Archivar zufällig einfällt. Irgendwo zwischen diesen Extremen findet gerade dieser Auswahlprozess statt, der sowohl natürlich monopolistische, dirigistische Momente hat, er auf der anderen Seite aber auch sehr viele Zufallsfaktoren enthält. "

Die Entscheidung, was im Einzelnen verfilmt und im Stollen Barbara eingelagert wird, treffen die Archivverwaltungen der Länder und des Bundes. Dabei schreiben die Richtlinien für den Schutz von Kulturgütern folgendes vor - Zitat:
"einen "repräsentativen Querschnitt in zeitlicher, regionaler und sachlicher Hinsicht" ... "

- eine äußerst unpräzise Beschreibung für den archivarischen Alltag. Zudem sehen die vom Bundesinnenminister veröffentlichten Grundsätze zur Durchführung der Sicherungsverfilmung insgesamt drei Dringlichkeitsstufen vor. Dabei soll die "Dringlichkeitsstufe 1" Vorrang haben. In der Praxis aber werden die so genannten
Stufen zwei und drei bislang überhaupt nicht berücksichtigt. Wegen fehlender personeller und finanzieller Kapazitäten, wie es inoffiziell heißt.

Uwe Schaper ist Direktor des Landesarchivs in Berlin und war bis vor kurzem mit zuständig für die Sicherungsverfilmung:

Uwe Schaper: "Die Formulierung ist ja nicht umsonst allgemein gehalten worden, weil Archivgut an sich vom Inhalt her nur schwer zu normieren lässt. Wir picken uns natürlich aus den Jahrhunderten etwas raus. Wir haben unsere Vorschriften, wo wir sagen, dass wir aus diesen und jenen Epochen so und soviel Archivgut verfilmen sollen. Das ist aber die graue Theorie. Sie haben als Archivar und vorgebildeter Historiker natürlich eine andere Sicht auf geschichtliche Ereignisse, die sich dann in der schriftlichen Verwaltung niedergeschlagen haben. Und versuchen dann dort, diesen Querschnitt zu bestimmen [...]. Ob Sie die Krönungsurkunde von Otto dem Großen haben oder ob Sie Unterlagen der Wannseekonferenz haben oder ob Sie Hitlers Testament haben oder ob Sie den Westfälischen Frieden dort haben oder ob Sie die Goldene Bulle haben - Vorschriften sind dazu da, um flexibel gehandhabt zu werden. "

Und es gibt noch weitere Probleme des Kulturgutschutzes: Von den zuständigen Kommissionen wird ein Archivbegriff gepflegt, der sich fast ausschließlich am Staat orientiert. Das heißt, was der Staat, was seine Repräsentanten und Behörden nicht selbst archivarisch produziert und erfasst haben, bleibt meist draußen vor dem Stollen. Das gleiche gilt zum Beispiel für die biographischen Interviews der mündlich erzählen Geschichte, für private Archive, Bibliotheken und Sammlungen. Lässt sich da überhaupt von einem
"repräsentativen Querschnitt" sprechen? Der Präsident des Bundesarchivs Hartmut Weber:

Weber: "Es ist sicher so, dass man nicht erwarten kann, dass die gesellschaftliche und politische Wirklichkeit eins zu eins abgebildet werden kann. Das gilt auch für frühere Zeiträume. Also, hier setzt man voraus und unterstellt, dass die dichte Überlieferung in früheren Zeiträumen zu 100 Prozent gesichert wird, dass aber aus unserer Zeit eine Sicherung nur in Auswahl erfolgen kann. Man kann natürlich sagen, es ist eine Sysiphusarbeit, aber 15 Prozent der jüngeren Akten gesichert, ist besser als gar nichts gesichert, wenn eben eine Katastrophe eintritt. "

Schaper: "Vielleicht etwas mit einem lustigen Hinterton zu sagen: Als Ar-chivar lernen Sie, mir der eigenen Endlichkeit zu leben! Sie bewegen sich mit den Unterlagen, die sie verwalten und auswerten, in mehreren Jahrhunderten, fast in 1000 Jahren im Regelfall. Sie lernen Leute kennen, wie sie gehandelt haben, auf dem Höhepunkt ihres Seins, wie sie alt geworden sind und wie sie von der Bildfläche verschwinden. Wir können nicht alles hinterlassen. Wobei die Frage auch ist: Müssen wir unseren Nachfolgern auch alles hinterlassen? "

Dass nicht alles hinterlassen wird, um ins kollektive Gedächtnis einzugehen, dafür sorgt die Gattung Mensch schon seit Jahrhunderten auf ihre eigene Weise:

Die Bibliothek von Alexandria, gegründet um 391 vor Christus unter dem Pharao Ptolemaios Soter dem I. hat Jahrhunderte überlebt,
Hier, wo die Systematisierung des Wissens beginnt, hat auch die Bücherverbrennung ihren Ursprungsort: 47 vor Christus geht während des Römischen Bürgerkrieges die große Alexandrinische Bibliothek mit ihren vermutlich 700.000 Buchrollen in Flammen auf.

Kulturgüter waren zu allen Zeiten als Symbolträger nationaler oder religiöser Identität Ziel von Kulturverächtern, Bilderstürmern und politischen Fanatikern, sagt Hartmut Weber:

"Im Balkankrieg der neunziger Jahre haben wir kennen gelernt, dass Archive bewusst in das Kreuzfeuer gekommen sind, dass Archive bewusst angegriffen worden sind, dass Archivgut bewusst vernichtet worden ist, weil man erkannt hat, dass zum Beispiel ethnische Minderheiten, für ethnische Volksgruppen ihr Archivgut, ihre Kirchenbücher, ihre genealogischen Quellen so wichtig und identitätsstiftend sind, dass, wenn man diese Quellen vernichtet, dass man dann auch einen Teil ihrer Identität vernichten kann. Der Angriff auf Kulturgut steht sicherlich nicht im Mittelpunkt, aber er wird zum Teil toleriert, eine Gesellschaft neu zu formieren. "

Autor: "Hier sind wir jetzt beim ersten Lagerstollen, verschlossen durch eine sehr viel stärker gesicherte Tür, eine Eisentür, die wahrscheinlich auch nur durch ein Codewort zu öffnen ist? "

Meyer: "Ja, mit einer Kombination, das erkennen Sie ja hier. Der ist derzeit nur alarmgesichert, dieser Stollen. "

Autor: "Das heißt, würden Unbefugte ihn betreten, würde bei Ihnen im Raum eine rote Lampe sehen und Sie würden herkommen? "

Meyer: "So primitiv ist das nicht mehr! "

Autor: "Sondern? "
Meyer: "Bei uns und bei der Polizei. Und das bei Auslösung eines Alarmes dann natürlich entsprechend eines Maßnahmeplanes, das abgearbeitet wird. "

Autor: "Was macht für Sie, als jemand der hier für den Sicherheitsbereich mit dem Stollen zuständig ist, das Besondere aus des Objektes, gibt es da etwas Besonderes? "

Meyer: "Es ist einmalig in der Bundesrepublik. "

Autor: "Ist das dann für Sie eine Besondere Ehre? "

Meyer: "So ist es, es gibt ja besondere Kriterien zur Auswahl des Sicherheitsunternehmens, wir sind stolz, Schlüsselträger zu sein und diese Überwachung hier durchzuführen. "

Autor: "Gab’ es da ein Ausschreibungsverfahren? Sicherlich! "

Meyer: "In der gesamten Bundesrepublik wird das ausgeschrieben. Also, das ist schon eine Riesenanzahl, die sich da bewerben für so etwas! "

Nach einem halben Kilometer im gut beleuchteten und belüfteten Hauptstollen heißt es, links abzubiegen. Wir stoßen auf eine kleine Einbuchtung:

Dort befinden sich parallel zum Hauptstollen und durch Drucktüren gesichert die beiden 50 Meter langen Lagerstollen. Hier wird das Filmmaterial in luftdichten Edelstahlbehältern verwahrt. 24 Kilometer Filmrolle passen in jede Urne. Um die Lagerfähigkeit von mindestens 500 Jahre ohne Informationsverlust garantieren zu können, bereitet ein Münchner Spezialbetrieb die Sicherungsfilme vier Wochen lang auf das staub- und schadstofffreie Klima im Stollen vor. Dietrich Hofmaier von der Firma MFM:

Dietrich Hofmaier: "Nach heutigen technischen Erkenntnissen geht man davon aus, dass die Filme eine LE 500 im internationalen Standard, also eine life expected 500 Jahre haben sollen. Und das versucht man über entsprechende künstliche Alterungsverfahren nachzuweisen. Wir nehmen die Filme auch und fügen sie zu großen Rollen zusammen, stanzen die einzelnen, protokollieren den ganzen Vorgang, bringen sie auch in den Behälter ein, klimatisieren den ganzen Behälter. Dann werden sie verschlossen und abgeholt zur Einlagerung in den Stollen. "

Über 1600 Edelstahlbehälter werden in doppelstöckigen Regalen gelagert. Der Etat für den unterirdischen Kulturgutbunker ist lächerlich gering. Mit seinen weniger als drei Millionen Euro jährlich nicht mal ein Tropfen auf den berühmten heißen Stein. Zum Vergleich: Allein um das schriftliche Kulturgut der Bayerischen Staatsbibliothek auf Mikrofilm zu sichern, bräuchte man etwa 120 Millionen Euro. Roland Stachowiak hat jahrelang die Einlagerung für das Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe betreut – und sich um den Kulturgutschutz verdient gemacht. Was sind die Gründe für die schlechte finanzielle Ausstattung?

Stachowiak: "Es gibt erstens keine Lobby dafür, weil die Haager Konvention diesen leidigen Zusatz hat ‚bei bewaffneten Konflikten’, die natürlich keiner haben möchte. Andererseits haben wir das Problem, das Fachlich der Beauftragte für Kultur und Medien zuständig ist, die Finanzmittel aber vom Innenministerium bereitgestellt werden. Und dort ist offensichtlich kein Interesse vorhanden, das deutsche Kulturgut für die Nachwelt zu retten. Wir haben eine konstante Mangelverwaltung, wenn man das so beschreiben möchte. Das heißt also, wie erreiche ich mit den wenigen Mittel, die ich habe, den größtmöglichen Effekt. "

Manfred Schneider: "Die ungeheure Datenmasse, die jeder Tag auswirft und die jeden Tag unter den Händen von Archivbeamten ihren Weg in die riesigen Mägen der Datendepots nimmt, macht es unmöglich, einen alten Begriff von Gedächtnis und Erinnerung beizubehalten. "

Der Literaturwissenschaftler und Essayist Manfred Schneider:

"Im Grund halten wir an dem Begriff der Geschichte heute als einer historisch gewordenen Unmöglichkeit fest. Nicht weil es keine Zeit und keine Ereignisse mehr gäbe, sondern weil die Datenmasse, die die Zeit auswirft, alle Kategorien von Narration, das ist ja Geschichte, sprengt. "

Insofern lassen sich auch die unaufhörlichen Klagen verstehen, dem Vergessen Einhalt zu gebieten, dem zunehmenden Verlust unserer kulturellen Fähigkeiten entgegenzuwirken. Und das nicht erst seit der vieldiskutierten Pisa-Studie:

Die Sorge um das Gedächtnis ist modern und hat bereits mit dem Siegeszug der Druckschrift begonnen. Seitdem sind die Speichertechnologien immer leistungsfähiger geworden. Allein auf der Festplatte eines gewöhnlichen Heimcomputers lässt sich eine kleine Hausbibliothek mühelos speichern. Gewaltige Archive sind entstanden. Heute gilt ihre Existenz als ein probates Mittel gegen den zu beklagenden historischen Analphabetismus.

Dabei gleicht das archivarische Überlieferungsbedürfnis einer gigantischen Wissensmaschine. Aber indem sich der Focus nur auf bestimmte Ereignisse, Dokumente und Überlieferungen richtet, bleiben andere im Dunkeln. Sie entsprechen nicht der "Dringlichkeitsstufe 1" – sei es durch finanzielle Engpässe oder methodische Auswahlkriterien. Das Archiv ist selbst Teil einer Entwicklung, vor der ihre Verwalter warnen. Und sie gehören mit zu jenen Mächten, die das Erinnern und das Vergessen regulieren. Dabei spiegelt der "Zentrale Bergungsort der Bundesrepublik Deutschland" nur ein allgemeines Phänomen moderner Gedächtnisbildung wider: Der Effekt des Erinnerns ist das Vergessen. Aleida Assmann:

Assmann: "Auf der einen Seite ist es so etwas, ich möchte es mal nennen, wie eine Flaschenpost an die Zukunft. Es ist die Einbeziehung der Möglichkeit einer nuklearen Katastrophe, die alles Leben, alle Kultur auslöscht und sich an eine postkulturelle oder posthumane oder was noch übrig bleiben mag, Nachwelt richtet. Also, ein total futuristisches Unternehmen. Erinnert so ein bisschen an die Botschaften, die auf dem Mond deponiert wurden, die Mitteilung geben sollen, an irgendwelche außerirdischen Wesen, über das, was sich auf der Erde abgespielt hat. Also, eine Kommunikation in eine Nachwelt hinein, von der wir überhaupt nicht uns vorstellen können, wie sie aussieht. [...] Die Frage ist, was man mit diesen Bildern anfangen soll, wenn die Objekte alle weg sind. Man könnte sagen, gut am Beispiel des Berliner Stadtschlosses sieht man, was eine Dokumentation über ein Gebäude, das es nicht mehr gibt, bedeutet. Man kann, wenn die Grundrisse da sind und man so etwas wieder aufbauen. Man kann ans restaurieren oder rekonstruieren gehen mit dieser Art von Information ist möglich [...] Das sind also die verschiedenen Aspekt, die da zusammenfließen. "

Wofür wird man den unterirdischen Archivbunker der Bundesrepublik in 500 Jahren halten? In Paris bei der UNESCO befindet sich ein internationales Register, in dem der Barbara Stollen eingetragen ist. Aber wer kann den Erhalt des Registers und seines Duplikats in der New Yorker UNO-Zentrale garantieren? Wer weiß den geheimen Schatzort noch zu nennen, wenn Deutschland einmal von der Landkarte verschwunden sein sollte? Wer soll die Eingangstür zum Stollen überhaupt öffnen - nach der Katastrophe?