Schattenseite des Wirtschaftswunders

15.01.2007
Die chinesische Wirtschaft boomt, in den Metropolen des Landes wachsen immer neue Glaspaläste in die Höhe und zeugen von den Erfolgen auf den Weltmärkten. Doch hinter diesen glitzernden Fassaden, abseits der großen Städte leiden die chinesischen Bauern unter Armut, Ausbeutung und Repression.
Wir kennen die Skyline der Wirtschafts- und Industriemetropolen Hongkong und Schanghai: "China, der neue Wirtschaftsgigant", das ist das Bild, das uns fast täglich die Medien vermitteln. Eine ganz andere Realität schildern zwei chinesischer Journalisten; für ihr Sachbuch "Zur Lage der chinesischen Bauern" wurden die beiden Autoren Guidi Chen und Chuntao Wu 2006 mit dem "Lettre Ulysses Award", dem inoffiziellen Nobelpreis für Journalismus ausgezeichnet.

"Zur Lage der chinesischen Bauern" erschien 2004 in China beim Staatsverlag der Kommunistischen Partei, in den ersten zwei Monaten wurden 300.000 Exemplare verkauft, das heißt, die Regierung wusste um die Probleme und erkannte sie auch offiziell an. Als aber "Zur Lage der chinesischen Bauern" landesweit heftige Protestaktionen unter den Bauern auslöste, -die drohten, die ganze Wirtschaft Chinas zusammenbrechen zu lassen -, verbot die Regierung das Buch. Es beschreibt China als einen Wirtschaftsgiganten auf morschen, tönernen Füßen; jener Wohlstand, den wir in den Medien erleben, ist in Wirklichkeit herausgepresst worden aus der ausgepowerten bäuerlichen Gesellschaft Chinas.

"Zur Lage der chinesischen Bauern" ist mehr als eine Reportage, wie es sich im Untertitel nennt. Es ist ein akribisches Sachbuch, eine Bestandsaufnahme des Status Quo: in China leben 1,3 Milliarden Menschen, 900 Millionen davon sind Bauern, also 70 Prozent. Deren Situation ist katastrophal, 200 Millionen sind Analphabeten, Gleichberechtigung zwischen Mann und Frau existiert nicht, - in diesem Punkt steht China, laut UNO, sogar an viertletzter Stelle von 190 Ländern. 150 Millionen Bauern leben, ebenfalls laut UNO, unter dem Existenzminimum von Dritte-Welt-Ländern, und in diesen Armutsgebieten leidet ein Drittel der Kinder an Unternährung. Dazu kommen 150 Millionen so genannte Wanderarbeiter aus dem bäuerlichen Bereich, also jene Lohnsklaven ohne Krankenversorgung, die die elektronischen Billiggeräte für Europa herstellen. Das Buch zeigt: China ist eine Zweiklassengesellschaft, eine Ausbeutergesellschaft: die Städter und Teile des mafiösen Mittelbaus der Kommunistischen Partei leben auf Kosten der Bauern. Die Masse der Bauern hat resigniert, ihre Arbeitsproduktivität schwindet, und damit ist Chinas Ernährungsgrundlage in Gefahr. 2006 hat die Regierung radikale Gesetze zur Entlastung der Bauern erlassen, sollten die nicht schnellstens greifen, implodiert China.

"Zur Lage der chinesischen Bauern" beginnt mit einer Reportage über jene Bauern, die als erste im Jahr 2001 gegen ihre Lebensbedingungen beziehungsweise Steuerlasten protestierten und daraufhin von den lokalen Behörden ermordet wurden, wie zum Beispiel der Bauer Zuoming Ding, in dessen Dorf 81 Prozent der Bewohner unter der Armutsgrenze lebten. Kapitel für Kapitel untersuchen die Autoren an endlosen Fallbeispielen die aktuellen wie historischen Gründe für die Bauernproteste in China, recherchieren vor Ort die korrupten Strukturen der Beamtenschaft und die hilflosen Gegenmaßnahmen der Regierung während der letzten Jahre, um wieder soziale Sicherheit in China einzuführen. Dieses Buch ist eine umfassende Analyse des Wirtschaftsystem Chinas, in der auf der einen Seite Menschen an Hunger leiden, während in Vorzeigedörfern Tourismus-Parks, chinesische Disney-Welten für reiche Städter entstehen. Ein Vor- und ein Nachwort von China-Experten bestätigen das Bild der Autoren und runden es ausführlich ab.

"Zur Lage der chinesischen Bauern" ist ein hochwissenschaftliches Sachbuch, penibel recherchiert, mit Zahlen gespickt und doch auch sehr übersichtlich; es ist ein unverzichtbares Standardwerk, um China heute und auch dessen Geschichte zu verstehen. Und gleichzeitig liest es sich wie Krimi und entführt uns in die Bilder- und Metaphern-Welt Chinas: "Wer Hunger hat, der malt sich einen Kuchen". "Zur Lage der chinesischen Bauern" ist ein Buch, das unser China-Bild auf den Kopf stellt.

Chen Guidi/Wu Chuntao: Zur Lage der chinesischen Bauern. Eine Reportage
Übersetzt von Hans Peter Hoffmann
Zweitausendeins Verlag 2006
600 Seiten, 39,90 Euro