"Schatten eines Jungen" am Deutschen Theater Göttingen

Beschädigte Leben in filigranen Zeitsprüngen

Andrea Strube, Benjamin Kempf, Marius Ahrendt und Gitte Reppin in einer Szene von "Schatten eines Jungen" am Deutschen Theater Göttingen
Lygres Drama "Schatten eines Jungen" erlebt in Göttingen die deutsche Erstaufführung. © Thomas Müller/ Deutsches Theater Göttingen
Von Michael Laages |
In "Schatten eines Jungen" erzählt Arne Lygre die Geschichte einer dysfunktionalen Familie. Geschickt setzt der norwegische Dramatiker dabei Sprünge durch Zeit und Raum ein. Den starken Text hat Ingo Berk am Deutschen Theater Göttingen präzise inszeniert.
Seit "Nichts von mir" und der Inszenierung am neuem "Berliner Ensemble" im vorigen Herbst erregt der norwegische Dramatiker Arne Lygre Aufmerksamkeit auf deutschen Bühnen. Frühere Versuche hatten nie nachhaltigen Erfolg. Erich Sidler, Intendant am Deutschen Theater in Göttingen, hatte den mittlerweile 50-jährigen Autor aus Bergen schon in Bern für sich entdeckt; und auch nach Göttingen brachte er Lygre mit. Ingo Berk hat jetzt "Schatten eines Jungen" inszeniert, und der Text von 2006 hat durchaus das Zeug für den Schritt voran im Repertoire.

Ein Junge ist Spielball falscher Emotionen

Wieder kommt Theater aus Norwegen vornehmlich finster daher – der Junge, dessen beschädigtes Leben im Zentrum steht, war wohl schon im Mutterleib Spielball falscher Emotionen. Untergekühlt blieb die Mutter, die das Kind wohl nie so recht wollte. Übersteigert stülpte sich Mutters Jugendfreundin von der anderen Seite des Fjordes schon früh über das Kind, ganz und gar aber, als die Eltern bei einem Unfall umkommen. Mit 14 wird Tom also "Annas Kind" - aber eben immer nur fast.
Diese Wiedergängerin von Mutter John aus Hauptmanns "Ratten" geht allerdings weiter – und mutiert von der ewigen Glucke zur ambitionierten Geliebten. Mit dem "Sohn" zeugt sie ein neues Kind, das wiederum der nicht will - "Ausschaben!" fordert er. Sie gebiert jedoch und stürzt sich dann in den Fjord, er kann sie nicht retten. Und wieder wird ein Kind bei der Nachbarin aufwachsen.

Filigran gestrickte Zeit-Dramaturgie

Das ist der Teufelskreis, den Lygre ausschreitet – in knappen Szenen, die einer perfiden, ungemein filigran gestrickten Zeit-Dramaturgie unterliegen. Denn tatsächlich beginnt das Stück an Toms 14. Geburtstag – den keiner feiern mag, weil die Eltern gerade gestorben sind. Anna wohnt schon mit im Doppelhaus, das –sagt der Heranwachsende- nie verändert werden darf, weil es ihm gehört.
Erstaufführungsregisseur Ingo Berk nimmt Lygres nun einsetzendes Spiel aus Vor- und Rückblenden sehr ernst: mit projizierten Jahreszahlen auf dem Bühnenbild von Damian Hitz. Dieser 14. Schicksalsgeburtstag findet 2032 statt: Tom ist also 2018, in unserer Gegenwart, geboren worden - ein Kind unserer Zeit. Bis 2038 (da ist er 20, und das Drama um Anna führt in die finale Katastrophe) schreitet die Fabel voran, auf der einen Seite.
Parallel und auf der anderen führen die Szenen Schritt für Schritt zurück: bis Tom 2019 ein Jahr alt ist: Und noch weiter zurück gedacht, rumort er noch im Bauch der von Schmerz genervten Mama, die nicht richtig lieben kann.

Präzision in Spiel und Regie gefordert

Dieses Hin und Her auf dem Zeitpfeil fordert sehr viel Präzision in Spiel und Regie und volle Konzentration vom Publikum. Dieser "Schatten eines Jungen" ist herausforderndes, anstrengendes Theater – gut so. Und Lygres Junge Tom muss viel bewältigen: vom Kleinkind bis zum Vater wider Willen. Und auch die Behinderung, die ihm die falschen Mütter lebenslang zufügen, muss immer präsent bleiben. Die Figur ist ja nicht nur Papa-fixiert, sondern praktisch asozial, hat keine Freunde - und die erste "Liebe" ist die Ersatz-Mama. Fataler geht es nicht.
Fluchtort sind für Anna Reisen, nach Ägypten zum Beispiel, aber mit der Nachbarin; für Tom liegt alle Sehnsucht im All. Und weil wir uns schon in der Mitte der 30er-Jahre dieses Jahrtausends befinden, kann das falsche, emotionale verkrüppelte Paar auch tatsächlich per Shuttle ins Weltall reisen, um sich den geschundenen blauen Stern aus der Ferne anzuschauen und romantisch im "Weltlicht" zu sitzen.
Schon die Hitz-Bühne wirkt zudem wie eine Wohn-Wabe auf "Raumschiff Enterprise" oder sonst wo in der Raumfahrer-Zukunft. Und als alles verloren ist, nimmt Tom den Raum-Anzug aus dem Schrank, setzt den Helm auf und tappt hinaus aus der Welt, wie sie ist.

Sprünge durch Raum und Zeit

Ein wirklich starker Text ist das, nicht ganz so radikal-reduziert wie bei Lygres zeitweilig auf deutschen Bühnen sehr modischem Kollegen Jon Fosse, aber auch sehr bewusst einfach im Ton, durchsetzt mit reichlich Wiederholung in Fragen und Antworten. Hinrich Schmidt-Henkel hat übrigens Fosse wie Lygre übersetzt.
Die dramaturgische Herausforderung liegt ganz und gar bei den Sprüngen durch Raum und Zeit; Ahrendt und Andrea Strube in der Rolle des zunehmend in Machtanspruch in Eifersucht versinkenden Mutter-Tiers Anna stehen im Zentrum. Wirkliche Gemeinschaft gab es wohl nie und für niemanden in dieser Geschichte, dieser Welt, die heute beginnt.
Regisseur Ingo Berk hält das kluge Stück gedanklich in der Schwebe. Mehr "action" wäre ja möglich: bei der Reise nach Ägypten, in der Verführung und danach ... aber so etwas wäre sicher extrem unnorwegisch. Einen Dramatiker lässt uns Berks Göttinger Team kennenlernen, der in der Tat alle Aufmerksamkeit der Theaterwelt verdient hat. Lauter beschädigte Leben zeigt er. Und Mutter John kann auch im Weltall keine Erfüllung finden.

Schatten eines Jungen
Von Arne Lygre
Regie: Ingo Berk
Deutsches Theater Göttingen, Premiere am 6.4.2018

Arne Lygre, 1968 in Bergen geboren, ist einer der profiliertesten Dramatiker Norwegens. Nachdem er 1998 mit "Mama und ich und die Männer" erfolgreich debütierte, wurden seine Stücke schnell in Deutschland und Frankreich entdeckt. So fand die Uraufführung von "Mann ohne Aussichten" in Paris statt, "Tage unter" wurde 2011 zur "spielzeiteuropa" eingeladen und "Ich verschwinde" wurde 2013 mit dem Ibsen-Preis ausgezeichnet. Für seinen ersten Band mit Erzählungen, "Tid-inne" erhielt Lygre 2004 den Brage-Preis des nowegischen Verlegerverbandes.

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