Scharfer Blick für alles Unausgesprochene

Der Schriftsteller Henry James (1843 - 1916) zeigt sich als guter Beobachter.
Der Schriftsteller Henry James (1843 - 1916) zeigt sich als guter Beobachter. © dpa / picture alliance / Pixfeatures
04.07.2013
Es ist eine packend erzählte Geschichte von einer Überfahrt um die Jahrhundertwende aus den USA nach Liverpool. Zwischen den Reisenden entspinnt sich unkontrollierbares Begehren vor dem Hintergrund gesellschaftlicher Zwänge. In "Überfahrt mit Dame" beweist sich Henry James als genauer Beobachter und scharfer Analyst.
Wie immer bei Henry James nehmen die Dinge äußerst langsam und gemächlich ihren Lauf. In elegant gesponnen Satzperioden breitet der Ich-Erzähler, ein Amerikaner in den besten Jahren, das erste Tableau vor uns aus: Er befindet sich in Boston, von wo er am nächsten Tag eine Schiffspassage nach Liverpool antreten soll, und entscheidet sich, seine Freundin und Reisegenossin Mrs. Nettelpoint aufzusuchen, um ihr seine Gesellschaft auf der Überfahrt anzubieten.

Im Haus der wohlhabenden alten Dame trifft er nicht nur den eher nichtsnutzigen, aber äußerst anziehenden Sohn Jasper an, sondern auch die beinahe mittellose, gleichwohl nassforsche Mrs. Mavis samt Tochter. Die hübsche Miss Grace Mavis, mit dreißig Jahren ein spätes Mädchen, soll sich ebenfalls nach Liverpool einschiffen, um dort ihren ewigen Verlobten zu treffen und endlich zu heiraten.

Da sich eine zwölftägige Ozeanüberquerung für eine alleinstehende Dame nicht gehört, möchte Mrs. Mavis ihre Tochter Mrs. Nettelpoint anvertrauen. Angesichts der neuen Konstellation entscheidet sich aber plötzlich auch Jasper, nach Europa zu reisen.

Mit einem scharfen Blick für alles Unausgesprochene beobachtet der Erzähler, wie sich die Beziehungen der kleinen Gesellschaft entfalten, und diese Position behält er auch auf dem Ozeandampfer bei. Allerdings beginnt der distinguierte Herr, sich nach und nach einzumischen und Vermutungen und Deutungen wie Gift in das Ohr von Mrs. Nettlebeck und schließlich auch Miss Mavis zu träufeln. Die Implosion des Ganzen ist programmiert.

Es ist ein typisches Henry-James-Setting: eine überschaubare Gruppe, in der sich ungeahnte Kraftfelder auftun, die allesamt mit Begehren, unausweichlichen Zwängen und starren gesellschaftlichen Regeln zu tun haben. Der aus bester Familie stammende James (1843-1906), seit seiner Jugend in Europa beheimatet und lange Zeit als Korrespondent für amerikanische Blätter aktiv, hatte Ende der achtziger Jahre mit nachlassender Popularität zu kämpfen.

Seine letzten beiden großen Romane Damen in Boston (1886) und Prinzessin Casamassima (1886) waren gleichgültig aufgenommen worden, und nun zeigten sich altgediente Abnehmer bei Zeitschriften desinteressiert. Doch gelangen ihm gerade in dieser Phase herausragende Erzählungen: Neben den Aspern-Schriften (1888) gehört auch die jetzt erstmals auf Deutsch erscheinende Überfahrt mit Dame (1888) dazu.

Der Schriftsteller war ein äußerst neugieriger und aufmerksamer Besucher sämtlicher Salons zwischen Rom, Paris und London und ließ sich von dem hinter vorgehaltener Hand ausgetauschten Tratsch inspirieren: Empört berichtete man damals von einer Ehefrau, die während einer Passage schamlos mit einem jungen Mann angebändelt hatte, was von der anwesenden Damenwelt aufs übelste verurteilt wurde.

In der packend erzählten Geschichte stellt James sein Geschick als Diagnostiker unter Beweis: Gerade der sich harmlos gebende Beobachter ist am Ende derjenige, der die Fäden zieht und die Gefühlsströme zu lenken weiß. Das Genrebild wird zu einer scharfsinnigen Gesellschaftsanalyse.

Besprochen von Maike Albath

Henry James: "Überfahrt mit Dame"
Übersetzt aus dem amerikanischen Englisch von Alexander Pechmann
Aufbau Verlag, Berlin 2013
175 Seiten, 16,99 Euro