Scham und Scheitern bis zum Schluss

Aglaja Veteranyi ist Kind einer rumänischen Zirkusfamilie. Die Schriftstellerin wurde vor allem bekannt für ihre beklemmenden autobiografischen Werke. Der Schweizer Rundfunk hat jetzt ihr berühmtestes Buch als Hörspiel produziert.
"Spricht Gott fremde Sprachen? Kann er auch Ausländer verstehen? Oder sitzen die Engel in kleinen gläsernen Kabinen und machen Übersetzungen? Und gibt es tatsächlich einen Zirkus im Himmel? Mutter sagt ja. Vater hat schlechte Erfahrungen mit Gott gemacht: 'Wenn Gott Gott wäre, dann würde er runterkommen und uns helfen.' - Kind: 'Aber warum sollte er zu uns runterkommen, wenn wir später eh´ zu ihm reisen?'"

In den 70er Jahren flieht ein Artistenkind mit der Familie von Rumänien in die Schweiz. Schon hinter der Tür des Wohnwagens lauert, in der Imagination des Kindes, das Böse. Vielleicht sogar die Securitate.

"Fragt mich jemand nach meinem Namen, muss ich sagen: Fragen Sie meine Mutter. Wenn man weiß, wer wir sind, werden wir entführt und zurückgeschickt. Meine Eltern und meine Tante werden getötet. Meine Schwester und ich werden verhungern. Und alle lachen dann über uns. In Rumänien wurden meine Eltern nach unserer Flucht zum Tode verurteilt."

Die Todesstrafe für den Diebstahl einer Zirkuskasse. Mit dem Geld wurden Dollars getauscht und Flugtickets gekauft. So oder so - ob wahre Geschichte, eine Version der Eltern oder "nur" der Fantasie des Kindes entsprungen: Real bleiben Angst, Fremdheit und Scham – und die Furcht vor dem möglichen Tod. Abend für Abend aufs Neue, beim Auftritt der Mutter unter der Zirkuskuppel.

"Meine Mutter ist die Frau mit den Haaren aus Stahl. Sie hängt an der Kuppel an den Haaren und jongliert mit Bällen, Ringen und Feuerfackeln."

Um von der Angst um die Mutter abzulenken, denkt sich die ältere Schwester eine Geschichte aus: Warum das Kind in der Polenta kocht.

"Wenn ich mir vorstelle, wie das Kind in der Polenta kocht, und wie weh das tut, muss ich nicht mehr daran denken, dass meine Mutter abstürzt. Sagt sie. Aber es nützt nichts, ich muss immer an den Tod meiner Mutter denken, um nicht von ihm überrascht zu werden. Ich sehe, wie sie mit den Feuerfackeln zu Boden fällt … und wenn ich mich über sie beuge, zerfällt ihr Gesicht zu Asche."

Aglaja Veteranyi hat eigene Kindheitserlebnisse in ihrem Roman verarbeitet - sie hat wohlgemerkt keine Autobiografie geschrieben. Die Hörbuch-Fassung betont diese Nuance: So unterschiedlich wie die ständig wechselnden Versionen darüber, wie das Kind in die Polenta geraten sein könnte, so vielstimmig ist die Figur der Ich-Erzählerin, die von verschiedenen Sprecherinnen verkörpert wird. Tonlage, Sound und Position wechseln, mal wird dicht am Mikrofon geflüstert, dann wieder erklingt eine ferne Stimme aus dem Off. Musik, Klangakzente, Irritationen. Sicherheiten gibt es keine.

"Unsere Geschichte klingt bei meiner Mutter jeden Tag anders. Wir sind orthodox, wir sind jüdisch, wir sind international, mein Großvater hatte eine Zirkusarena, er war Kaufmann, Kapitän, zog von Land zu Land, verließ nie sein Dorf, er war Grieche, Rumäne, Bauer, Türke, Jude, Adliger. Meine Mutter trat schon als Kind im Zirkus auf."

Konkreter dagegen, fast protokollartig dokumentiert die Stationen einer Biografie: Kinderheim, Trennung der Eltern, Unfall der Mutter, das zwielichtige Varieté, in dem die minderjährige Ich-Erzählerin im Negligee tanzen muss. Der nette Mann, der sie missbraucht. Die Drastik des Äußeren wird vom Aufruhr im Inneren weit übertroffen – bizarre Sprachbilder spiegeln eine unerbittliche Imagination. Das Hörbuch macht die Ängste fast körperlich erfahrbar. Wie auf der Fahrt zum Kinderheim:

"'Vielleicht haben uns unsere Eltern verkauft. Das kommt in Rumänien vor.' - 'Die Fahrt im Auto dauerte mehrere Jahre. Ich wollte mir den Weg nach Hause merken, um zurückkehren zu können, aber je mehr ich mich anstrengte, desto ähnlicher wurde alles, als hätte jemand die Landschaft aufgeräumt. Es fiel Schnee, jetzt müsste das Auto in die Schlucht stürzen. Ein großes Haus. Das ist die Leiterin, sagte Frau Schneider.'"

Kein Happy End für den Hörer, Scham und Scheitern bleiben Prinzip bis zum Schluss. Der letzte Auftritt in diesem beklemmend schönen Hörspiel ist ein Vorsprechen auf der Schauspielschule.

"Der Mund des Leiters öffnete sich, daraus kamen Wörter. Dann hörte ich noch: Es tut uns leid, aber wir sind hier nicht beim Zirkus."

Besprochen von Olga Hochweis

Aglaja Veteranyi: Warum das Kind in der Polenta kocht
Christoph Merian Verlag, Basel 2011
1 CD, 69 Minuten, 12 Euro