Scham, objektive Schuld und das Recht der Öffentlichkeit

Von Hans Ulrich Gumbrecht |
Kaum etwas Privateres gibt es in modernen Gesellschaften, kaum etwas, das konsequenter vom kalten Licht der Öffentlichkeit abgeschottet ist, als Psychotherapie und Psychoanalyse. Denn in ein solches Behandlungsverhältnis wird im Regelfall nur aufgenommen, wer sich selbst als behandlungsbedürftig anerkennt, und die meisten Gespräche beginnen, indem der Patient beschreibt, warum er sich unwohl fühlt und wo er mögliche Gründe dafür sieht.
In den klassischen Begriffen von Sigmund Freud formuliert, wird der Therapeut bald auf „unbearbeitetes Material” in der Psyche des Patienten stoßen, auf schmerzhafte Erinnerungen an „traumatische Erlebnisse” zum Beispiel oder auf „verdrängte Gefühle” von Schuld. Schon allein dadurch, dass sie dem Patienten bewusst werden, soll sich Erleichterung einstellen, und im weiteren Verlauf der Behandlung versucht der Therapeut, ein neues, weniger belastendes Verhältnis zu den Spuren der Vergangenheit entstehen zu lassen. Der ganze Vorgang ist nicht nur deshalb von einem Wall der Vertraulichkeit geschützt, weil Therapeuten gesetzlich zum Schweigen verpflichtet ist, sondern auch und vor allem, weil nur die wenigsten Psycho-Patienten nichts dagegen haben, dass ihre Probleme öffentlich werden.

Einige Jahrhunderte lang hatte vor allem die Beichte diese Funktion der Entsorgung von Gemütsbeschwerden erfüllt, mit dem einen strukturellen Unterschied, dass dort der Akt des Geständnisses – in das Ohr des verschwiegenen Priesters und vor dem Angesicht Gottes – allein und ohne therapeutische Eingriffe die gewünschte erleichternde Wirkung hervorbringen sollte. Aus der Perspektive dieser Tradition muss es höchst eigenartig, ja wie ein Paradox gewirkt haben, als sich im späten 18. Jahrhundert der Philosoph Jean-Jacques Rousseau mit dem Buch seiner „Bekenntnisse” statt an Gott oder an einen Vertrauten programmatisch an die Weite der aufgeklärten Öffentlichkeit wandte. Denn in der Sphäre der Öffentlichkeit werden ja individuelle Schuldgefühle und Traumata, die privat zu bearbeiten und zu eliminieren wären, unvermeidlich zum Anlass von Scham und von gesellschaftlicher Zurücksetzung.

Das von Rousseau anvisierte Ritual öffentlichen Bekennens von persönlicher Schuld verkam dann bald zu einer eher unsympathischen Institution linker Politik – aber um „sympathisch” oder „unsympathisch” geht es natürlich nicht. Zu fragen ist, ob die Öffentlichkeit unter bestimmten Umständen ein Anrecht auf individuelle Schuldgeständnisse hat.

Eine Antwort liegt auf der Hand. In all jenen Fällen, wo Bürgern durch illegale Handlungen Nachteile entstanden sind, soll das Rechtsystem die Schuldigen identifizieren, zum Eingeständnis bringen und nach Möglichkeit den Ausgleich der entstandenen Nachteile für die Opfer illegaler Handlungen in die Wege leiten. Je nach den Umständen, so kann man also vorerst zusammenfassen, überlassen moderne Gesellschaften individuelle Schuld entweder der psychotherapeutischen Bearbeitung unter dem Schutz der Privatheit oder machen sie mittels des Rechtsystems zu einer öffentlichen Angelegenheit. Aber gibt es Situationen, wo individuelle Schuld „objektiv” ist, wo die Öffentlichkeit ein Anrecht auf Geständnisse hat – ohne dass die Korrektur entstandenen Unrechts als Möglichkeit und als Ziel eine Rolle spielt? Gibt es Situationen, wo man dem Schuldigen Gefühle der Scham nicht ersparen soll, obwohl es nichts mehr „gutzumachen” gibt?

Mit dieser Frage wechseln wir von der Dimension der im Normalfall eindeutigen und stets verbindlichen Rechtsvorschriften zur Dimension des Taktes und, wenn man so sagen kann, „des guten moralischen Geschmacks.” Eine für moralischen Takt wichtige Bezugsgrösse sind die Autorität und die Aura solcher Ämter, die durch persönliches Verschulden des Amtsinhabers beschädigt werden können, auch wenn diese Schuld im Hinblick auf die Anforderungen des Amts mehr oder weniger irrelevant ist. Die Mehrheit der amerikanischen Staatsbürger war erleichtert, als seinerzeit das gegen Präsident Clinton angestrengte „Impeachment”-Verfahren scheiterte – und doch wäre ich von ihm Präsidenten weit mehr beeindruckt gewesen, wenn er sein Verhältnis zu Monika Lewinsky nicht mit so großer Beharrlichkeit und sogar mit Meineiden in der Privatsphäre zu halten versucht hätte.

Noch mehr wohl sind rechtlich nicht abzuverlangende Schuld-Eingeständnisse ein Anrecht des Takts gegenüber Personen, die sich zu öffentlichen Anwälten der Moral machen. Anderen ethische Ansprüche vorzuhalten, ohne sich selbst an ihnen zu messen, steht fundamentalistischen Predigern zum Beispiel oder auch literarischen Autoren schlecht an, die sich „für das Gewissen ihrer Nation” halten.

Eine ähnliche Pflicht zum Geständnis trifft schließlich die Protagonisten, Amtsträger und Mitläufer jener Vergangenheiten, von denen sich bestimmte Gesellschaften entschieden abgewandt haben. 1948 geboren, liegt mir zwar nichts an der fortgesetzten rechtlichen Verfolgung und öffentlichen Verurteilung ehemaliger Nationalsozialisten. Aber ich möchte, ganz abgesehen von den je persönlichen Motivationen und Umständen, keinen von ihnen grüssen und mit keinem von ihnen reden müssen. Und über diese Möglichkeit der Vermeidung verfüge ich aber nur dann, wenn sich die überlebenden SS-Männer zu erkennen geben.


Hans Ulrich Gumbrecht zählt zu den deutschen Literaturwissenschaftlern mit internationalem Renommee. Er studierte Romanistik, Germanistik, Philosophie und Soziologie in Deutschland, Spanien und Italien, lehrte dann an den Universitäten Konstanz, Bochum und Siegen. Seit 1989 ist er Inhaber des Lehrstuhls für vergleichende Literaturwissenschaft an der Universität Stanford in Kalifornien.