Schäuble: Jüdisches Leben gehört "mitten in unsere Gesellschaft hinein"

Moderation: Birgit Kolkmann · 09.11.2006
Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble hält es für ein "Wunder", dass es wieder jüdisches Leben in Deutschland gibt. "Gut dass wir uns daran erinnern, dass es so glückliche Entwicklungen bei allem Elend im vergangenen Jahrhundert gibt", sagte der CDU-Politiker anlässlich des Gedenkens an die Reichspogromnacht und der Einweihung der neuen Synagoge in München.
Birgit Kolkmann: Dresden, Gelsenkirchen, Bochum, Chemnitz und jetzt München. Die neuen Synagogen sind Zeichen des jüdischen Selbstbewusstseins in Deutschland, aber auch Mahnung an den Holocaust, dessen Auftakt die Pogromnacht des 9. November 1938 markierte. Und die architektonischen Glanzlichter sind zugleich Ausdruck eines großen Schutzbedürfnisses: dicke Mauern zum Teil ohne Fenster im Erdgeschoss, feste Türen, Sicherheitsschleusen, ständige Bewachung. Das zeigt, wie wenig normal und selbstverständlich sich jüdisches Leben in Deutschland entfalten kann. München bekommt nicht nur eine neue Hauptsynagoge, zugleich auch ein Gemeindezentrum und ein Museum. Bei der heutigen feierlichen Eröffnung des Gotteshauses sind so viele illustre Gäste eingeladen, dass die neue Synagoge, - ein Doppelkubus aus Stein unten und Glas oben - sie nicht alle fassen kann. Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble wird auch dabei sein. Er ist nun zum Interview bei Deutschlandradio Kultur, schönen guten Morgen.

Wolfgang Schäuble: Guten Morgen.

Kolkmann: Herr Schäuble, grenzt es an ein Wunder, wie sich jüdisches Leben in Deutschland manifestiert?

Schäuble: Ja, wenn man das aus der Sicht von Auschwitz und vom Holocaust sieht und vom Ende des, von der Katastrophe 1945, ist das natürlich ein Wunder, dass es jüdisches Leben in Deutschland wieder gibt. Aber wir haben ja eine Reihe von Wundern erlebt, die Wiedervereinigung 1989/ 1990, der Fall der Mauer war auch so eins. Und es ist auch gut, dass wir uns gelegentlich daran erinnern, dass es so glückliche Entwicklungen bei allem Elend im vergangenen Jahrhundert in unserem Land gibt: Dann haben wir weniger Grund zu klagen und mehr Grund dankbar zu sein.

Kolkmann: Die Synagogen blieben in der Nachkriegszeit ja eher unauffällig in Deutschland, jetzt kommen sie heraus aus den Hinterhöfen und es ist ganz ähnlich wie bei den Moscheen. Zeigt sich hier ein gewisser Emanzipationsprozess, die Vielfalt in unserem Land?

Schäuble: Na ja, wir haben vor allen Dingen zunächst einmal wieder mehr jüdisches Leben. In den ersten Jahrzehnten hatten wir ziemlich wenig, und deswegen war es ja auch ganz wichtig, dass auch die Zuwanderung aus der ehemaligen Sowjetunion die Gemeinden in Deutschland wieder zugenommen haben. Und natürlich ist es auch ein Stückweit ein Prozess, der Jahrzehnte gebraucht hat, damit diese glückliche Entwicklung auch so sichtbar geworden ist, dass Juden sich auch stärker dazu bekennen, wieder in Deutschland zu leben. Das war ja über viele Jahrzehnte eine Diskussion innerhalb der jüdischen Gemeinschaft, und viele, etwa der frühere israelische Staatspräsident, der vor gut zehn Jahren nach Deutschland gekommen ist, hat ja gesagt, eigentlich Juden sollten in Israel leben und nicht in Deutschland.

Kolkmann: Trotz allem gibt es immer noch viele Ressentiments, auch wieder wachsenden Antisemitismus. Die Synagogen und jüdischen Gemeindezentren sind quasi Hochsicherheitstrakte. Ist das beunruhigend und auch beruhigend zugleich, weil sich ja der Staat schützend davor stellt?

Schäuble: Genau so ist es. Es ist natürlich traurig, dass man heute so viel Schutz braucht. Wir haben einen Teil Antisemitismus, wir haben einen kleinen Teil von Neonazis, das ist eine Katastrophe! Jeder Einzelne ist zu viel. Die Verantwortlichen in Bund und Ländern, auch die große Mehrheit unserer Bevölkerung, der Gesellschaft, der Zivilgesellschaft tut alles dagegen. Wir haben natürlich auch eine Bedrohung jüdischen Lebens durch einen Teil des fundamentalistischen-islamitischen Terrorismus, auch das haben wir ja. Aus beiden Gründen müssen wir schützen. Aber natürlich ist es traurig, und wir setzen ja alles daran, dass wir das Miteinander, das Nebeneinander von Kulturen und Religion, friedlich, tolerant als einen Ausdruck von Vielfalt, von Bereicherung betrachten, und nicht als Bedrohung.

Kolkmann: Es gibt ja einen Staatsvertrag mit dem Zentralrat der Juden. Könnte das ein Vorbild sein für einen Staatsvertrag auch mit den Muslimen?

Schäuble: Ja, die Muslime sind anders organisiert als die jüdische Gemeinschaft. Das ist ja einer der Gründe, warum wir den Versuch der Islamkonferenz gestartet haben, der auch in diesen Tagen mit den Arbeitsgruppen, die jetzt in Nürnberg tagen, in die Konkretisierung geht. Wir arbeiten ja intensiv daran. Staatsvertrag haben wir ja so ähnlich auch mit den christlichen Kirchen. Wir haben Konkordate mit der römisch-katholischen Kirche, wir haben staatskirchenrechtliche Regelungen mit den evangelischen Landeskirchen, und das haben wir auch mit der jüdischen Gemeinschaft. Die Muslime sind anders organisiert. Sie sind ja nicht Kirchen, wie christliche Kirchen. Und da sie nun den Wunsch haben, ähnlich ihre Beziehungen zum Staat zu regeln, wie die christlichen Kirchen oder die jüdische Gemeinschaft, sagen wir, dann müsst ihr euch auch entsprechend organisieren.

Kolkmann: Das deutsche Judentum wurde ausgerottet. Jetzt entsteht etwas Neues. Die jüdischen Gemeinden boomen wegen des Zuzugs aus Osteuropa. Stellt das die Gesellschaft nun vor neue Probleme, nämlich die der Integration?

Schäuble: Auch innerhalb der jüdischen Gemeinschaft und innerhalb der jüdischen Gemeinden gibt es diese Integrationsprobleme, aber bisher haben sie es gut bewältigt und ich bin ganz zuversichtlich, dass sie es auch weiterhin tun. Es gibt da die üblichen Diskussionen und Auseinandersetzung zwischen orthodoxen und liberalen Kräften und ähnlichem mehr, die jede freiheitliche Gemeinschaft auszeichnen. So lang man das tolerant tut und so lang man es auch in dem Bewusstsein der Verantwortung, der gegenseitigen Verantwortung miteinander tut, bei allen unterschiedlichen Meinungen, ist es ja das, was eine pluralistische, demokratisch-freiheitlich verfasste Gesellschaft auszeichnet.

Kolkmann: Die neue Hauptsynagoge in München sollte eigentlich an die Peripherie der Stadt. Charlotte Knobloch, die Vorsitzende des Zentralrats, kämpft aber dafür, dass sie ins Zentrum der Stadt gekommen ist und bekam Hilfe vom Oberbürgermeister Ude, der machte dieses zur Chefsache. Ist es ein ganz wichtiges Zeichen, dass die Politik sich dafür verwendet, eben die jüdischen Gemeinden nicht mehr an den Rand zu drängen?

Schäuble: Ja, klar, aber das ist generell richtig, und es ist gut, dass man das in München auch so gemacht hat. Das gehört alles mitten in unsere Gemeinschaft hinein, und Synagogen, die Hauptsynagoge in München, die neue natürlich in ganz besonderer Weise. Das ist richtig so, und das ist ja ein Ausdruck dessen, was wir am Anfang unseres Gesprächs gesagt haben: dass es ein Wunder ist, ein Wunder, das letzten Endes uns, unserem Deutschland geschenkt ist und uns bereichert. Und das trägt man nicht an den Rand, das wäre ja nun ganz albern und das stellt man mitten hinein, und ist dankbar, dass es das nach der Katastrophe von Auschwitz wieder in Deutschland gibt.

Kolkmann: Die Furcht vor Anschlägen ist, wir sprachen es ja eben schon an, groß. Bei der Grundsteinlegung für die Synagoge sollte ein Anschlag verübt werden, der aber vereitelt werden konnte. Sind die Sicherheitsvorkehrungen heute entsprechend so, als wenn der Papst und der US-Präsident gleichzeitig zu Besuch kämen?

Schäuble: Na ja, die Sicherheitsvorkehrungen sind so, wie es der Lage angemessen ist. Bei der Grundsteinlegung hat man ja den Anschlag zum Glück auch verhindern können. Das zeigt auch zunächst einmal die Qualität der Arbeit unserer Polizeien und Sicherheitsbehörden, für die wir dankbar sein können, die wir unterstützen, für die wir die notwendigen Mittel und Voraussetzungen schaffen, für die wir auch immer wieder um Verständnis werben, dass sie die notwendigen Mittel brauchen.

Auch die notwendigen gesetzlichen Mittel, weil Freiheit und Sicherheit ja keine Gegensätze sind, sondern sich gegenseitig bedingen, und da wird auch heute das Notwendige geschehen. Darauf kann man sich verlassen. Aber man muss das jetzt auch nicht im Vorhinein übertreiben in der Bewertung. Das ist leider Ausdruck dessen, dass so etwas notwendig ist, die Sicherheit ist gefährdet, deswegen haben wir entsprechende Vorkehrungen, aber sie behindert nicht das Zusammenleben in Freiheit und Toleranz.