Schädel von Neandertalerbaby rekonstruiert

Von Konrad Lindner |
Wie mit Computer und 3-D-Projektoren Anthropologie betrieben wird, kann man dieser Tage auf eindrucksvolle Weise in Leipzig erleben. Zwei junge österreichische Wissenschaftler haben in mühevoller Kleinarbeit aus fossilen Knochenresten den Schädel eines Neandertalerbabys zusammengebaut.
Der österreichische Anthropologe Philipp Gunz schließt eine Tür auf. Er führt die Besucher in das virtuelle Labor des Max-Planck-Instituts.

„Hier brummen die Hochleistungsrechner und Projektoren, die die dreidimensionalen Bilder an die Wand werfen.“

Originale Fotografien von neu geborenen Neandertalern gibt es nicht. Doch wenn derartige Dokumente fehlen, sind die Forscher des Instituts für evolutionäre Anthropologie nicht ratlos. Sie rekonstruierten aus fossilen Knochen den Schädel eines Neugeborenen dieser längst ausgestorbenen Bewohner Europas. Das ermöglicht es ihnen, die Entwicklung des Gehirns bei Menschen und Neandertalern in der sensiblen Phase nach der Geburt zu vergleichen. Philipp Gunz über die mühselige Kleinarbeit im virtuellen Labor.

„Man findet diese Neandertalerknochen zerbrochen und auch nicht ganz komplett. Was man da macht, man nimmt die Einzelteile, die fossilisierten, also versteinerten Knochen und legt die in ein dreidimensionales Röntgengerät. Einen so genannten Computertomografen. Sobald man diese Daten im Computer hat, kann man mit diesen dreidimensionalen Puzzleteilchen den Schädel zusammenpuzzeln. Das Spannende ist, dass man am Computer nicht nur unendlich viele Möglichkeiten hat, sondern auch die fehlenden Teile ergänzen kann und das mittels Computeralgorithmen machen kann.“

Grundlage für die Untersuchungen waren die zusammengebauten Fragmente eines neugeborenen Neandertalers, die in einer Höhle in Frankreich gefunden wurden.

„Er wurde schon 1914 gefunden. Und auch richtig als Neandertalerbabyskelett erkannt und dann wieder vergessen. 90 Jahre lang hat man nicht gewusst, wo dieses Skelett gelagert wird. Dann hat ein Kollege von uns in einem französischen Museum in Les Eyzies das im Lager wieder entdeckt.“

Beim Zusammenfügen der überlieferten Bruchstücke halten die Wissenschaftler nicht die empfindlichen Knochenreste in Händen, sondern sie handeln in einer fiktiven Welt. Wie ein 3-D-Kino erzeugt das virtuelle Labor des Max-Planck-Instituts eine Welt der Illusionen.

An dem Projekt von Philipp Gunz, der in Wien 2005 seinen Doktor machte und nach Leipzig kam, war Simon Neubauer beteiligt, der ebenfalls in Wien Anthropologie studierte und jetzt in Leipzig seine Doktorarbeit verteidigte.

„Es ist schon ein Puzzlespiel, nur machen wir das nicht mit den Originalfossilien, sondern wir machen es am Computer … Das hat Vorteile, weil erstens einmal die Originalfossilien nicht zerstört werden bei der Manipulation und man auch statistische Verfahren einsetzen kann am Computer, die mit dem Originalfossilien nicht möglich wären. Zusätzlich dazu ist ein Fossil immer in einem Museum gelagert und es praktischer, wenn man es zu Hause in seiner Institution selbst am Computer bearbeiten kann.“

Ohne modernste Rechner und ohne 3-D-Projektoren könnte das dreidimensionale Bild vom Schädel eines Neandertalerbabys nicht in den Raum projiziert werden. Zur Demonstration für die Besucher startet Simon Neubauer die beiden Projektoren. Die Spannung wächst. Doch die Aktion beginnt mit einer Enttäuschung. Trotz der dunklen Brille mit Polarisierungsfiltern, sind nur verschwommene Bilder zu erkennen. Simon Neubauer zeigt sich unbeeindruckt.

„Meistens dauert es einige Sekunden, dass sich das Hirn auf diese Illusion einstellt. Es ist immer so, dass man in den ersten paar Sekunden immer noch etwas verschwommen sieht und dann erst das Gehirn die Illusion perfekt wahrnimmt.“

Im Raum brummen mehrere Hochleistungsrechner. In jedem stecken drei Grafikkarten. Um einen Schädel im 3-D-Format darstellen zu können, müssen sehr große Datenmengen verrechnet werden. Der Weg vom realen Fund zur virtuellen Darstellung ist schwierig, sagt Philipp Gunz. Die Wissenschaftler arbeiten mit dreidimensionalen Röntgendaten, die mit industriellen Computertomografen extrem hochauflösend gescannt werden.

„So ein Neandertalerschädel in hoher Auflösung hat dann schon ein paar Gigabyte mindestens. Das kann auch schon mal ein paar hundert Gigabyte haben.“

Plötzlich wirken die Besucher entspannt. Sie haben das Gefühl, dass der Schädel des Neandertalerbabys vergrößert im Raum schwebt. Das Gehirn der Betrachter ist in der Illusion angekommen. Die hohe Präzision, mit der die Gestalt des Schädels sichtbar wird, ist faszinierend. Aus der Form des Schädels können die Wissenschaftler Rückschlüsse über die Gestalt des Gehirns ziehen. Als die Forscher das Gehirn eines neugeborenen Neandertalers mit dem Gehirn eines Menschenbabys verglichen, stießen sie auf ein Resultat, das in der Fachwelt für einiges Aufsehen sorgt: Die Gestalt der Gehirne ist fast identisch. Simon Neubauer.

„Überraschend war, dass die Unterschiede großteils nach der Geburt, und zwar etwa im ersten Lebensjahr, passieren und nicht so, wie viele Leute vorher angenommen haben, ein großer Teil schon vor der Geburt angelegt ist.“

Die neue Studie zeigt aber, dass sich moderne Menschen durch die sich anschließende frühe Phase der Gehirnentwicklung von Neandertalern erheblich unterscheiden. Philipp Gunz.

„Die Phase, die zwischen modernen Menschen und Neandertalern am unterschiedlichsten ist, ist direkt nach der Geburt und im ersten Lebensjahr entwickeln sich moderne Menschen anders als Neandertaler. Was da genau passiert, können wir an Hand dieser Daten noch nicht fest stellen. Dazu brauchen wir noch zusätzliche Studien, wo wir dann tatsächlich sich entwickelnde Gehirne anschauen können.“

Die Verbindungen zwischen den Gehirnregionen, die in dieser frühen Phase bei modernen Menschen geknüpft werden, sind wichtig für soziale, emotionale und kommunikative Fähigkeiten. Das bedeutet: Die Neandertaler haben die Welt wahrscheinlich nicht so wahrgenommen wie wir.