Der Andenbauer, der RWE verklagte

Saúl Luciano Lliuya lebt mit seiner Familie in den Anden, wo nach und nach die Gletscher seiner Kindheit verschwinden. Aus Sorge um seine Familie klagt er gegen den Energiekonzern RWE: ein Kampf für den Schutz seines Zuhauses und seine Zukunft.
Wenn Saúl Luciano Lliuya von seiner Heimat spricht, dann meint er nicht einfach nur eine Stadt oder ein Stück Land. Er meint die Berge. Die Anden. Die schneebedeckten Gipfel der Cordillera Blanca – früher so weiß wie ihr Name, heute eher grau und braun. Die Gletscher seiner Kindheit schmelzen unaufhaltsam dahin. Als Kind konnte er ihre Pracht noch täglich bewundern. Heute dominiert karges Gestein die einst glitzernde Berglandschaft. Lliuya ist heute 44 Jahre alt, Kleinbauer, Bergführer – und Klimakläger aus tiefster Überzeugung:
"Als ich vielleicht fünf oder acht Jahre alt war, da konnte ich die Gletscher sehen, die waren sehr groß und sehr schön. Als ich dann älter war, etwa 18 Jahre alt, dann waren die schon viel kleiner geworden und man konnte mehr Berggestein sehen. Und da denkt man, das ist etwas sehr Schlimmes und da muss man was tun."
Lliuya lebt mit seiner Familie in seiner Heimatstadt Huaraz im Norden Perus auf über 3.000 Metern Höhe, baut dort im Sommer Mais, Kartoffeln und Quinoa an. Die Stadt liegt rund 350 Kilometer nördlich der Hauptstadt Lima, sie gilt als das Zentrum des Bergsteigens in Peru. Im Winter führt er die Menschen hinauf in die Berge.
Gletschersee Palcacocha schwillt von Jahr zu Jahr an
Huaraz liegt allerdings direkt unterhalb des türkisblauen Palcacocha-Sees in den peruanischen Anden. Was auf den ersten Blick idyllisch wirkt, ist für ihn und viele andere Menschen in der Region eine ständige Sorge. Denn heute führt der See dreißigmal mehr Wasser als in den 1970er-Jahren – gespeist vom stetig schmelzenden Gletscher. Wegen der Erderwärmung ist in Peru bereits über die Hälfte des ursprünglichen Gletschereises geschmolzen.

Kläger Saúl Luciano Lliuya beim Gletschersee Palcacocha, der aufgrund der Gletscherschmelze im Zuge des Klimawandels von Jahr zu Jahr größer wird© Walter Hupiu Tapia / Germanwatch e.V.
Die Behörden haben den See längst als gefährlich eingestuft. In der ganzen Stadt sind Evakuierungsschilder angebracht. Zahlreiche Schutzmaßnahmen am Gletschersee wurden bereits umgesetzt, die Gefahr für die lokale Bevölkerung ist sehr präsent. Sollte eine Eis- oder Felslawine in das Wasser stürzen, könnte eine verheerende Flutwelle entstehen. Lliuya weiß, was das bedeuten würde; er lebt mit der Angst, dass sich die Geschichte wiederholen könnte. "Um mich herum schmelzen die Gletscher, und ich mache mir Sorgen um die Zukunft meiner Familie und meiner Stadt."
Schon einmal kam es zur Katastrophe: 1941 löste ein Gletscherabbruch eine gewaltige Flut aus. Damals starben 1.800 Menschen, ein Drittel der Stadt wurde zerstört. Heute ist Huaraz auf 55.000 Einwohner angewachsen – umso dringlicher sind Schutzmaßnahmen wie Dämme, ein Frühwarnsystem und ein kontrollierter Wasserablauf. Ein ähnlicher Gletscherabbruch hätte heute durch den gestiegenen Pegel im See noch verheerendere Folgen.
„Wir haben alle eine Verantwortung, aber RWE hat eine viel größere"
Lliuya will sich nicht mit dieser Bedrohung abfinden und hat deshalb einen ungewöhnlichen Weg eingeschlagen. 2015 reichte er mit Unterstützung der deutschen Umweltorganisation Germanwatch Klage ein: gegen den deutschen Energieriesen RWE, den größten CO₂-Emittenten Europas.
Die Begründung: RWE trägt laut wissenschaftlichen Berechnungen rund 0,47 Prozent zu den weltweiten Treibhausgasemissionen bei. Und dieser Anteil soll sich – so fordert es Lliuya – auch finanziell in der Verantwortung widerspiegeln. Rund 20.000 Euro verlangt er von dem Konzern – kein hoher Betrag, aber ein symbolischer: eine Kostenbeteiligung an den Schutzmaßnahmen, die nötig sind, um das Risiko der Flutkatastrophe zu senken. Eine Beteiligung, errechnet anhand der prozentualen Klimaverantwortung.
“Was ich gegen RWE habe? Dass sie sehr viel Kohle verbrannt haben und dadurch Gase ausgestoßen haben, die sich in der ganzen Atmosphäre verbreitet haben. Und damit zum Problem beigetragen haben", sagt Lliuya. "Wir haben alle eine Verantwortung. Aber wenn man das prozentual betrachtet, hat RWE eine viel größere Verantwortung."
Der Prozess ist zäh. Die erste Instanz in Essen, wo RWE seinen Hauptsitz hat, wies die Klage ab. Doch Lliuya ließ nicht locker. 2017 legte er erfolgreich Berufung ein und bekam Recht: Der Fall ist verhandlungswürdig. Jetzt liegt er bei der nächst höheren Instanz, dem Oberlandesgericht Hamm.
Seitdem zieht sich das Verfahren, begleitet von juristischen Gutachten, Ortsbesichtigungen und endlosen Verhandlungen. Eine Delegation aus Deutschland reiste 2022 nach Peru, um sich selbst ein Bild vom Palcacocha-See zu machen. 4.560 Meter hoch, dünne Luft, beschwerlicher Aufstieg für die Europäer – Alltag für Lliuya.
Zehn Jahren lang dauert der juristische Streit bereits. Die Kosten für die Durchsetzung seines Anspruchs gegen das Unternehmen sind hoch, Kosten, die der Kleinbauer allein nicht annähernd decken könnte. Die Stiftung Zukunftsfähigkeit trägt die Ausgaben für Gericht und seine Anwältin, Germanwatch deckt die Reisekosten aus Peru. Was ihn seit zehn Jahren antreibt, ist nicht nur der Schutz seiner Familie. Es ist das Gefühl, endlich gehört zu werden - weltweit: "Es gibt schon viele unumkehrbare Schäden", sagt er.
Ein Symbol für Klimagerechtigkeit
Für den Prozess reist er mehrfach nach Deutschland, bleibt sich auch in der Ferne treu, trägt Bergschuhe, Fleecepulli, Daunenjacke. Bei einer Demonstration in Bonn 2017 sieht er Tausende junge Menschen, die für das Klima auf die Straße gehen. "Das hat mir Kraft gegeben", sagt er später. "Zu sehen, dass ich nicht allein bin."
Sein Anliegen hat internationale Aufmerksamkeit erregt. Die Idee, dass große Emittenten wie RWE auch für die Folgen ihrer Emissionen im Globalen Süden haften könnten, ist neu – und höchst brisant. Sollte Lliuya gewinnen, könnte sein Fall als Präzedenzfall in die Geschichte eingehen. "Der Fall von Saúl gegen RWE zeigt, dass die Hoffnung lebt - und kämpft", erklärte die Klimaaktivistin Luisa Neubauer im Vorfeld der Verhandlung. Der Fall sei schon jetzt unabhängig vom Ergebnis historisch. "Er zeigt, dass Menschen auf der ganzen Welt bereit sind, den Kampf mit den fossilen Konzernen aufzunehmen."

Saúl Luciano Lliuya führt seit zehn Jahren einen Rechtsstreit mit dem deutschen Energiekonzern RWE© IMAGO / Funke Foto Services / Sebastian Konopka
Für viele ist Saúl Luciano Lliuya daher heute mehr als nur ein Kläger. Er ist ein Symbol. "Saul Luciano ist wirklich eine ganz besondere Person in seinem Kampf für Klimagerechtigkeit. Der steht da so was von dahinter und der gibt auch in schwierigen Momenten nicht auf", beschreibt Julia Grimm von Germanwatch seine Beharrlichkeit. "Ich glaub, das zeichnet ihn auch am meisten aus. Er möchte, falls nötig, bis zur letzten Instanz gehen und sein Huaraz vor dieser Flutkatastrophe schützen und sich für seinen Kampf um Klimagerechtigkeit einsetzen und die Verantwortlichen zur Verantwortung ziehen."
Ob er am Ende vor Gericht Erfolg haben wird, ist noch ungewiss. Aber eins steht fest: Lliuya hat bereits Geschichte geschrieben. Als einfacher Bauer aus den Anden, der sich gegen einen der größten Energiekonzerne Europas stellt – im Namen seiner Stadt, seiner Familie, seiner Berge. Und im Namen von Millionen Menschen weltweit, die unter dem Klimawandel leiden.
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