"Satanischer Feigling" oder Retter für viele Juden?

Karl-Josef Hummel im Gespräch mit Frank Meyer · 09.10.2008
Dass Papst Pius XII. zu den Verbrechen der Nationalsozialisten geschwiegen hat, ist nach Ansicht von Karl-Josef Hummel von der Kommission für Zeitgeschichte in Bonn taktisch motiviert gewesen. Erst so habe der Papst die "vielfältigen Hilfsaktionen zur Rettung von Juden" durchführen können, sagte Hummel.
Frank Meyer: "Ein großer Papst wird zu Grabe getragen." So hieß es bei der Beerdigung von Papst Pius XII. im Jahr 1958. Fünf Jahre später hat sich der junge deutsche Schriftsteller Rolf Hochhuth hingestellt und gesagt: "Dieser Papst war ein satanischer Feigling." Hochhuth hat 1963 sein Drama "Der Stellvertreter" veröffentlicht und dieses Stück hat das negative Bild von Papst Pius XII. ganz entscheidend geprägt. Der wichtigste Vorwurf von Hochhuth: Pius habe zu den Verbrechen der Nationalsozialisten, zum Holocaust geschwiegen. Auf der anderen Seite verteidigen aber auch jüdische Historiker diesen Papst unter anderem mit dem Argument, die stille Diplomatie des Papstes habe hunderttausenden Juden das Leben gerettet. Darüber will ich jetzt sprechen mit Karl-Josef Hummel von der Kommission für Zeitgeschichte in Bonn. Diese Kommission erforscht die Geschichte des deutschen Katholizismus. Karl-Josef Hummel, aus dem Vatikan heißt es in diesen Tagen, es sei ein Umschwung bei der Bewertung von Pius XII. im Gange. Gibt es denn neue Informationen über die Politik dieses Papstes oder geht es nur um eine Neubewertung seiner Rolle?

Karl-Josef Hummel: Also, es geht um beides. Wir haben die Situation seit 2006, dass die vatikanischen Archive geöffnet worden sind bis einschließlich 1939, also bis zum Ende des Pontifikats von Pius XI. Seitdem haben wir die Gelegenheit, die Entwicklung des Eugenio Pacelli als Nuntius in Deutschland und als Kardinalstaatssekretär genau zu verfolgen, weil uns ...

Meyer: Also, der spätere Papst Pius XII., um das zu ergänzen.

Hummel: ... weil uns hunderttausende von neuen Dokumenten zur Verfügung stehen.

Meyer: Und was geht aus diesen Dokumenten hervor über seine Rolle, sein Verhalten speziell gegenüber dem Nationalsozialismus?

Hummel: Also, wir haben zunächst einmal die Nuntiaturberichte aus München und aus Berlin. Pacelli war Nuntius von 1917 bis 1929 und er hat in München zum Beispiel die Kommunistische Räterepublik kennengelernt, er hat den Aufstieg des Nationalsozialismus einschließlich des Hitler-Putsches 1923 in München miterlebt und als er 1929 nach Rom zurückging, hatte er überhaupt keinen Zweifel, dass sowohl der Kommunismus als auch der Nationalsozialismus mit der ktholischen Kirche nicht vereinbar sind.

Meyer: Was sagen Sie, Karl-Josef Hummel, zu diesem Hauptvorwurf der Pius-Kritiker, er habe geschwiegen zum Holocaust? Stimmt das denn faktisch?

Hummel: Also, das Schweigen ist ein Topos, der sich durchzieht von 1933 an. Es gibt diesen berühmten Brief von Edith Stein an Pius XI., wo genauso argumentiert wird, dass die Verfolgung der Juden, 1. April 1933 war der wirtschaftliche Boykott-Tag im Deutschen Reich, dass diese Verfolgung der Juden in Deutschland nur die Vorform ist und dass anschließend es zu einer Verfolgung der Katholiken kommen würde und dass der Papst dem nicht zuschauen darf, ohne dass er sich deutlich dazu äußert.

Meyer: Das liegt aber jetzt historisch vor der Zeit, nach der ich Sie gefragt habe. Was hat denn Papst Pius XII. als er Papst war, was hat er öffentlich gegen den Holocaust gesagt?

Hummel: Das liegt vorher, ist aber in der Vorbereitung glaube ich wichtig für die Äußerungen, die er dann als Pius XII. gemacht hat. Zum Beispiel die Weihnachtsansprachen von 1941 und 1942. Also, wenn Sie die Weihnachtsansprache 1941 nehmen, hat die "New York Times" anschließend geschrieben, die Stimme von Pius XII. sei eine einsame Stimme im Schweigen eines ganzen Kontinents.

Meyer: Aber die Frage ist ja auch, was hätte ein lauter Protest des Papstes, ein energischer Protest gegen den Völkermord der Nationalsozialisten, was hätte der bewirken können in dieser historischen Situation, zum Beispiel was den Kriegseintritt der Amerikaner angeht an der Seite der Alliierten? Was denken Sie dazu?

Hummel: Also, Sie haben ja vorhin Hochhuth zitiert mit der Bemerkung "satanischer Feigling". Hier wird Pius XII. als jemand dargestellt, der sich nicht getraut hat, zu diesem Thema sich zu äußern. Tatsächlich ist es wahrscheinlich umgekehrt, dass eine Überlegung, sich öffentlich zu äußern, dazu geführt hat, dass die Dinge anschließend schlechter gewesen wären als vorher und dass das sogenannte Schweigen eine bewusste taktische Variante war, weil nur das öffentliche Schweigen Pius XII. seine vielfältigen Hilfsaktionen zur Rettung von Juden ermöglicht hat.

Meyer: Die Pius-Kritiker führen noch ein anderes Argument ins Feld, nämlich Papst Pius XII. sei ein entschiedener Antikommunist gewesen und deshalb sei ihm Hitlers Krieg gegen die Sowjetunion eigentlich ganz recht gewesen. Was halten Sie von diesem Argument?

Hummel: Da ist zunächst richtig, dass die persönlichen Erfahrungen von Pius XII. ihn dazu gebracht haben, eindeutig gegen den Kommunismus Stellung zu beziehen und Sie können das in vielen Schriften auch nachlesen. Aber dieser Antikommunismus, Pius XII. hat ihn dazu gebracht, zusammen mit dem Nationalsozialismus gegen den Bolschewismus tätig zu werden.

Meyer: Wenn wir mal auf die andere Seite schauen, Karl-Josef Hummel, zu den Verteidigern von Pius XII: Es gibt den amerikanischen Historiker David Dalin, der sagt, Pius XII. müsste eigentlich den jüdischen Ehrentitel gerechter unter den Völkern erhalten, weil er hunderttausende von Juden vor dem Tod im Konzentrationslager gerettet habe. Wie ist denn da die historische Forschungslage? Inwieweit weiß man, ob Papst Pius XII. tatsächlich so vielen Juden das Leben gerettet hat?

Hummel: Also, die exakte Bestimmung der Zahl ist ein schwieriges Problem. Da gibt es Schätzungen, die gehen von 600.000 Juden aus, andere von Hunderttausende von Juden. Tatsache ist, dass Pius XII. zum Beispiel dafür gesorgt hat, dass 80 Prozent der Juden von Rom überlebt haben und dass er dafür gesorgt hat, dass über die Nuntiaturen in aller Welt Juden so lange es möglich war ausreisen konnten oder, als die Ausreise nicht mehr möglich war, dann mit falschen Pässen ausgestattet oder mit Taufurkunden. Pius XII. hat die Klöster in Rom geöffnet für Juden, um sie zu verstecken. Es gibt eine Reihe von Dokumenten, wo Juden sich anschließend, nach 1945, in Rom für diese Hilfe bedanken. Aber es ist schwierig, eine genaue Zahl zu nennen. Ich tendiere eher zu einer Größenordnung von 100.000, 150.000. Die Frage für Pius XII. war immer: "Was kann ich tun, damit anschließend die Situation nicht schlimmer ist als vorher?" Und daraufhin wurde immer gefragt: "Was hätte denn eigentlich noch schlimmer kommen können, als der Völkermord an den europäischen Juden?" Und da muss man sagen, es hätte eben noch schlimmer kommen können, dass auch die geretteten 100.000, 150.000 ums Leben gekommen wären. Und da ist die Rettung jedes Einzelnen glaube ich wirklich eine gute Tat.

Meyer: Papst Pius XII. soll ja von der katholischen Kirche selig gesprochen werden. Der Jesuitenpater Peter Gumpel hat die historischen Untersuchungen für ein Seligsprechungsverfahren geführt, über lange, lange Jahre hinweg. Er hat nun gesagt, er habe nichts gefunden, was Pius XII. belasten würde, es spreche nichts gegen eine solche Seligsprechung. Und was sagen Sie nach dem, was Sie als Historiker wissen? Kann dieser Papst selig gesprochen werden?

Hummel: Also, ich würde mich da als Historiker nicht öffentlich äußern, aber wenn ich in der Frage überhaupt Stellung nehmen sollte, wäre mein Vorschlag, Päpste grundsätzlich von der Seligsprechung auszunehmen, weil man davon ausgehen kann, dass ihre Lebensführung so ist, dass sie grundsätzlich dafür geeignet sind und man muss das nicht in jedem einzelnen Fall dann auch tatsächlich dokumentieren.

Meyer: Heute ist der fünfzigste Todestag von Papst Pius XII. Papst Benedikt hat Papst Pius heute mit einem Gedenkgottesdienst gefeiert. Wer war dieser umstrittene Papst? Darüber habe ich mit dem Historiker Karl-Josef Hummel von der Kommission für Zeitgeschichte in Bonn gesprochen. Herzlichen Dank für das Gespräch.