Sartre und der Algerienkrieg

Von Eberhard Spreng · 23.09.2009
Ein Familiendrama hat Sartre 1959 geschrieben, aber auch eine Anklage gegen die Folter des französischen Militärs im Algerienkrieg. Der Schriftsteller ahnte, dass das Stück zensiert werden könnte, wenn er die Dinge zu deutlich beim Namen nennen würde – deshalb kleidete er seine Kritik an der Politik Frankreichs in eine Geschichte aus der Zeit des Nationalsozialismus.
Im Sommer 1959 ist es sehr heiß in Italien, wo Jean-Paul Sartre fieberhaft und unter dem Einfluss von Aufputschmitteln an einem seiner philosophischen Hauptwerke, der "Kritik der dialektischen Vernunft" und einem neuen Stück arbeitet: "Die Eingeschlossenen von Altona". Die Zeit drängt, denn Sartre schreibt gewissermaßen mit den historischen Ereignissen um die Wette: Frankreich führt in Algerien einen schmutzigen Krieg, von dem trotz einer weitreichenden Medienzensur einige alarmierende Augenzeugenberichte in die französische Öffentlichkeit einsickern. Seine Lebensgefährtin Simone de Beauvoir erinnert sich in ihrem Memoirenwerk "Der Lauf der Dinge".

"In Rom hatte er unter ständigem Einfluss von Corydrane an einem Stück gearbeitet, und nun, in Pisa, zeigte er mir den ersten Akt. 'Das ist Suderman', sagte ich ihm. Er stimmte zu. Wieder einmal war er mit seinem Engagement ein unvernünftiges Risiko eingegangen. Die Sorge, ein Projekt zu verderben, das ihm viel bedeutete, trug zu seiner Gereiztheit und Aufregung bei."

Der Philosoph will zwei Stränge in eine Dramaturgie bündeln. Zum einen die Geschichte eines Familiendramas, das für Simone de Beauvoir allzu viel boulevardeske Sentimentalität hatte, die sie unangenehm an den deutschen Jahrhundertwende-Dramatiker Hermann Sudermann erinnerte. Zum anderen sollte das Stück die Folter anprangern, mit der das französische Militär unter dem Kommando des Generals Jacques Massu den Widerstand der algerische FLN zu brechen versuchte. Sartre wusste, dass ein Stück, spräche es unverblümt von Folter, Vertreibung und Massenlagern in Algerien, sofort zensiert würde. Gerade erst waren Aufführungen von Jean Genets Stück "Die Wände" verboten worden. Deshalb kleidete er seinen Vorwurf gegen die französische Politik in eine Geschichte aus der Nazivergangenheit.

Wiederum brachte Sartre in seinen "Les Séquestrés d'Altona" das Thema: Verantwortung und Freiheit des Einzelnen in den Blick, das seit den Anfängen im Zentrum seiner Existenzphilosophie gestanden hatte, wie der Sartre-Experte Vincent von Wroblewsky betont.

"Wenn er nach der Freiheit des Einzelnen fragt und nach seiner Handlung, dann ist sehr bald auch die Frage der Situation, in der der Einzelne handelt, präsent und dann treibt das über das Individuum hinaus und das war für Sartre eine schwierige Frage, wie er das zusammenbringt. Wie dieser bis zum Schluss von ihm absolut beibehaltene Ausgangspunkt des Individuums verbunden wird mit den großen geschichtlichen Bewegungen des Jahrhunderts."

Es geht um die Schuld eines ehemaligen Wehrmachtsoffiziers, dem sogenannten "Schinder von Smolensk", aber auch um die Schuld von dessen Vater. Verstrickt und hadernd mit ihrem Gewissen beschließen beide am Ende eines sehr langen Fünf-Akters den gemeinsamen Selbstmord.

"Ich bekenne mich allein schuldig, an allem."
"Jetzt akzeptiere ich."
"Was?"
"Was du, wenn ich dich richtig verstanden habe, von mir erwartest. Unter einer Bedingung: Sofort und zusammen."
"Du meinst: Noch heute?"
"Ich meine: Sofort."

Frantz Gerlach und sein Vater sind am fatalen, finsteren Rand dessen angelangt, was man noch eine Erfahrung von individueller Freiheit nennen kann, dem zentralen Thema in Sartres anti-idealistischer Existenzphilosophie:

"Als ich von Dés-espoire sprach, also davon, dass das Leben jenseits der Hoffnungslosigkeit überhaupt erst beginnt, war diese anscheinend paradoxe Formel für viele schwer verständlich. Ich sage, dass wir die Hoffnung fahren lassen müssen, weil wir nur so in der Lage sind, unser Vertrauen auf nichts anderem zu gründen, als auf den Möglichkeiten des eigenen Handelns."

Bereits vor der verschobenen Uraufführung im Théâtre de la Renaissance hatte die Presse von Sartres riskantem Vorhaben erfahren, über französische Gräuel mit einer deutschen Geschichte voller Nazi-Anspielungen zu reagieren. Kann man sich Parallelen zu Nazideutschland in Frankreich leisten? In der Regie von Francois Darbon und mit dem jungen Serge Reggiani in der Rolle des Frantz kommt das Stück am 23.9.1959 zum ersten Mal zur Aufführung. Simone de Beauvoir erinnert sich in ihrer AutoBiografie an den Abend.

"Ich stand ganz hinten im Parkett und beobachtete das Publikum. Wir erstickten fast in dem schlecht belüfteten Saal, was nicht gerade half, den reichen, aber schwierigen Text zu verstehen. Mehr als sonst bewegte mich die öffentliche Enthüllung eines Werkes, das mich bis ins Mark erschütterte, schwitzend und steif vor Angst, klammerte ich mich an eine Säule und glaubte, in Ohnmacht fallen zu müssen. Am Ende des Stücks wurde so laut applaudiert, dass mir klar wurde, dass die Sache gewonnen war."