Sarajevo

Zurück zum europäischen Jerusalem?

Von Stefan May · 04.01.2014
In Sarajevo nahm der Erste Weltkrieg seinen Ausgang, in den 90ern wurde die Stadt zum Sinnbild des blutigen Zerfalls Jugoslawiens. Hinter all dieser Geschichte von Leid und Tod wird schnell vergessen, dass Sarajevo mit seiner christlichen, muslimischen und jüdischen Tradition einst auch "europäisches Jerusalem" genannt wurde. Was ist von dieser Tradition der Toleranz geblieben?
Etwa 80 Menschen stehen beim Sonntagsgottesdienst in der serbisch-orthodoxen Kirche von Sarajevo. Vor dem Krieg lebten 150.000 orthodoxe Serben in der Stadt, heute sind es zwischen 7000 und 10.000. Zwei Priester zelebrieren den Gottesdienst, singen, schwenken Weihrauch, segnen.
Tags darauf gibt einer der beiden Zelebranten, Mitar Tanasic, seit zwölf Jahren Sekretär der Diözese, im benachbarten Pfarrhaus ein Interview. Er entschuldigt sich, dass er immer wieder den Raum verlassen muss. Die Polizei ist im Haus, denn in der Nacht sind die Pfarrhauswände mit den Worten "Serben – Mörder von Bosnien-Herzegowina" beschmiert worden. Derartiges gehört noch 18 Jahre nach dem Ende des Krieges zum Alltag, wie Mitar Tanasic bestätigt.
"Man kann sich nicht wohlfühlen, wenn man immer von den Medien hört, die Serben sind Verbrecher, sie machen dies und das. Ich glaube, das ist der große Druck. Und auch unsere Nachbarn – Bosniaken, Moslems – schließen sich oft diesem Bild an."
Heute ist Sarajevo zu 80 Prozent von muslimischen Bosniaken bewohnt, die Serben leben im Satellitenstadtteil Ost-Sarajevo. Der Krieg hat ethnisch "gesäubert", hat Abgrenzungen geschaffen.
"Wir leben seit Jahrhunderten zusammen. Wir lernten zusammenzuleben, aber, das ist meine Meinung, wir hatten immer einen gewissen Druck zusammenzuleben. Während der Zeit der Ottomanen war es Druck vom ottomanischen Reich, während der österreichisch-ungarischen Herrschaft ebenfalls, während des jugoslawischen Königreichs auch und unter den Kommunisten. Heute leben wir getrennt, und wir stehen im Dialog. Das ist sehr wichtig. Aber ich glaube, wir müssen lernen, neu miteinander zu sprechen."
Die Jungen ziehen wegen der Perspektivlosigkeit weg
In der Pfarrei Sankt Joseph am Rand der Innenstadt kämpft der katholische Priester Mario Bernadic mit ähnlichen Problemen wie sein orthodoxer Mitbruder: Katholisch sind die wenigen in der Stadt verbliebenen Kroaten. Die meisten der etwa 2000 Pfarrangehörigen sind alt, die Jungen ziehen wegen der Perspektivlosigkeit weg, die Arbeitslosigkeit ist hoch, erzählt er.
"Ich bin mehr ein Psychologe als ein Priester, könnte man sagen. Es gibt normalerweise verschiedene Traumata von der Kriegszeit. Aber wir haben nicht nur Probleme mit der Kriegszeit, sondern mehr vielleicht mit der heutigen Zeit. Zum Beispiel diese Omas und Opas, die kommen, diese Menschen sind traurig, sie leben ganz allein, ihre Kinder sind irgendwo in der Welt, sie kommen nicht so oft zum Beispiel aus den USA hier her, das ist nicht möglich. Dann auch diese schlechte wirtschaftliche Situation, das ist ein Problem."
Der Krieg ist noch allgegenwärtig an den von Einschüssen wie gesprenkelt wirkenden Hausfassaden, überall im Land, wo noch 200.000 Minen vermutet werden. Oben im Seitenschiff der frisch renovierten Kirche fällt ein bräunlicher Farbfleck mit Inschrift auf, ähnlich einem freigelegten Fresko, das wie ein bärtiger Männerkopf aussieht. Bernadic, Dozent an der Universität in Sarajevo, stemmt ein wuchtiges Teil einer Granate aus der Zimmerecke auf einen Stuhl.
"Wir haben hier Reste von 155 Millimeter Haubitz-Granaten. Das Dach war in einer ganz schlechten Situation, und dann ist Wasser gekommen und alle anderen Probleme. Die Leute hier haben dann gemerkt in dieser Zeit von dieser Gestalt, das ist etwas vielleicht vom Wasser. Mein Pfarrer ist nicht von Wunder und so Show machen, aber er sagte: Gläubige wollen das bewahren, und wir bewahren es."
Obwohl die Kriegsnarben im Stadtbild und in den Seelen noch nicht verheilt sind, versucht man sich in Bosnien die Hände zu reichen. Ausgehend von den vier Religionsgemeinschaften wurde 1997 ein Rat für interreligiösen Dialog geschaffen, dem hohe Vertreter der orthodoxen und der katholischen Kirche, des Islam und des Judentums angehören.
Salafisten werben für eine strengere Auslegung des Islam
Gemeinsam treten sie auf, etwa jetzt, da der serbisch dominierte Teilstaat Republika Srbska einen Gesetzentwurf beschließen will, der muslimische Begräbnisse bis ins Detail zu regeln versucht. Die Bosniaken empfinden das als Einmischung in die religiöse Freiheit. Auch der Interreligiöse Rat beschäftigte sich damit, sagt der muslimische Rechtsanwalt Emir Kovacevic:
"Nach Diskussionen befanden wir, dass das von gemeinsamem Interesse ist, und der Interreligiöse Rat unterstützte neun Zusätze, die vom bosniakischen Rat in der Versammlung der Republika Srbska eingebracht wurden. Das bedeutet, dass wir sagen können: Jede Gemeinschaft unterstützt die andere, obwohl das nur ein Gesetz für die Republika Srbska ist, nicht für Sarajevo. Aber wir fanden, dass es wichtig ist zusammenzuhalten und gemeinsam die Stimme zu erheben."
Mitunter tauchen im Stadtbild Sarajevos bärtige Männer in langen Gewändern auf: Salafisten, Wahabiten, die während des Krieges aus Arabien nach Bosnien-Herzegowina gekommen sind, um die ihrer Meinung nach im Glauben zu lauen Bosniaken auf einen strengeren Weg des Islam zu führen. Offenbar mit wenig Erfolg.
"Soweit wir es überblicken, gibt es Salafisten hier. Sie sind Missionare, sehr eifrige Missionare. Aber die islamische Gemeinschaft ist sehr gut organisiert, mit einer strengen Hierarchie. Jede Moschee wird kontrolliert. Niemand darf in einer Moschee sprechen ohne Genehmigung der islamischen Gemeinschaft. Ich denke, die Bosniaken, die Muslime, sollten gute Beziehungen zu den Menschen in Europa entwickeln, nicht außerhalb Europas."
Religion als ein Vehikel zur Versöhnung
Der Präsident der jüdischen Gemeinde ist da skeptischer: Es habe immer mit einer kleinen Gruppe begonnen, sagt Jakob Finci, egal ob es die Russische Revolution war oder der Nationalsozialismus. Die Juden in Bosnien sind Sepharden und haben sich nach der Vertreibung aus Spanien Ende des 15. Jahrhunderts in Bosnien angesiedelt. Beim Besuch im Büro von Präsident Finci fällt auf, dass am Eingang keine Polizei postiert ist, keine Kameras das Areal überwachen.
"Wir sind sehr stolz, dass dieses Land so ziemlich das einzige ist, das fast völlig frei von Antisemitismus ist. Optimistisch dachte ich, der Grund dafür ist, dass wir sehr gut integriert sind in der bosnischen Gesellschaft. Aber dann sagten mir einige Freunde: Sei nicht so glücklich, wir glauben nicht, dass sie euch mögen, sondern, dass diese drei ethnischen Gruppen so beschäftigt sind einander zu hassen, dass sie keine Zeit haben, die Juden zu hassen."
Im ganzen Land leben noch 1000 Juden, 700 in Sarajevo. Als die Stadt fast vier Jahre lang belagert war, waren sie es, die 1000 Glaubensbrüder, aber auch 1500 Nichtjuden in die Freiheit retteten. So wie die anderen Gesprächspartner bestreitet Jakob Finci heftig, dass der Krieg ein Glaubenskrieg war. Nein, die Religion sei für nationalistische Ziele missbraucht worden. Heute aber kann sie für die Gesellschaft dienlich sein.
"Wir sehen Religion als ein Vehikel zur Versöhnung. Das geht nicht leicht und nicht schnell, aber ich bin sicher, dass wir Erfolg haben und dass wir ein normales Leben haben wie in jenen Tagen: absolut friedlich, in vollkommener Toleranz und Koexistenz miteinander lebend, wiederum mit einigen gemischten Ehen, denn Liebe ist eine merkwürdige Sache, die manchmal keine Religion oder Ethnie anerkennt."
Bozana Katava arbeitet als Fachberaterin im Rat des Interreligiösen Dialogs. Er wird unter anderem auch von Deutschland unterstützt: Von der Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit, von Renovabis und der Konrad-Adenauer-Stiftung. Auch die junge kroatische Theologin Katava sieht im Miteinander der Religionen eine Möglichkeit zur Versöhnung in der bosnischen Gesellschaft.
"Wann immer wir einen Anschlag wahrnehmen, reagieren wir in der Weise, dass wir Leute zusammenholen – Priester, Imame, Repräsentanten der Gemeinde und der Polizei –, die diesen Anschlag verurteilen, und als Repräsentanten der religiösen Gemeinschaften sagen: Wir sind gegen so etwas. Das sendet eine starke Botschaft an die Gläubigen, an alle Menschen, dass Religion nichts damit zu tun hat."
Laut dem Theologen Bernadic hat es in den vergangenen Jahren dadurch um 50 Prozent weniger Anschläge gegen religiöse Symbole gegeben. Wichtig sei, dass man mehr übereinander wisse, sagt Bozana Katava. Ein mühevoller, langer Weg, aber:
"Ich glaube stark an eine gemeinsame Zukunft. Aber ehrlich gestanden ist es schwierig hier in Bosnien optimistisch zu sein. Es ist sehr schwierig. Wir glauben nicht an unsere Politiker. Die politische Situation ist ziemlich schlecht. Ich glaube, wir können zusammen leben und wir könnten viele Probleme lösen, wenn es genug politischen Willen gäbe. Wir haben gegen Vorurteile zu kämpfen, gegen Stereotype, gegen die Idee, dass wir getrennt leben könnten, denn wir können nicht in Ghettos leben."