Sammeln als Obession

Von Adolf Stock |
Die Berlinerin Gertrud Weinhold sammelte jahrzehntelang religiöse Volkskunst, vor allem Krippen aus aller Welt. Seit ihrem Tod kann man ihre Sammlung in Berlin, Brandenburg und München besichtigen.
Konrad Vanja: "Wir gehen in das Eldorado eines jedes Krippensammlers, nach Neapel, und finden dort ganze Straßenzüge. Man kann dort alles kaufen, was man braucht, also von den Bäumchen bis zu den Krippenfiguren der Heiligen Familie, aber natürlich auch die Vielfalt der Bevölkerung, der gemeine Mann, das Kind, der Polizist, der Bürgermeister, der Räuber, der Dieb und so weiter und so weiter in den Figuren auch vorkommen und dann in solchen schönen Krippenbergen auch wieder gestaltet werden."

Konrad Vanja ist Direktor des Museums Europäischer Kulturen in Berlin. Er steht vor einer neapolitanischen Weihnachtskippe, die aus der ökumenischen und vergleichenden Sammlung Gertrud Weinhold stammt, die seit 1994 in Berlin-Dahlem zuhause ist.

"Es ist natürlich die Modelleisenbahnanlage, die man dort in einer frommen Szenerie wiederfindet, und so wie Mensch und Kind ihren Spaß an einer solchen Anlage haben, so darf man es natürlich eben auch in diesen frommen Zeiten des siebzehnten, achtzehnten und neunzehnten Jahrhunderts vermuten."
Gertrud Weinhold hat ein Leben lang Krippen gesammelt. Es war eine Suche, die sie in vier Kontinente führte.

Gerhard Bogner: "Wenn Sie ein Leben lang in der Welt herumrennen und suchen und sammeln und bekommen geschenkt und kaufen und werden überrascht auf einem Flohmarkt, und dann wieder sind Sie neidisch wegen eines unerreichbaren Objekts in irgendeinem anderen Museum, wenn Sie betteln müssen und gleichzeitig loben, und Sie liegen dann nachts im Bett und schreiben Ihre Bücher, das ist so eine andere Existenz. Manchmal dachte ich, sie ist ein weiblicher Odysseus, sie fährt da in der Weltgeschichte herum und sucht Ithaka und vielleicht hat sie’s auch gefunden."

Gerhard Bogner ist Krippenexperte. In seiner Münchner Wohnung erzählt er von Gertrud Weinhold:

"Sie hatte von vielen Sachen nicht nur ein Stück, sondern von ihren Eiern oder von Engeln oder was weiß ich, immer gleich 30, 40 und die Variation X und Variation Y. Die Weinhold war besessen von der Habelust."

Gut 1000 Krippen kamen zusammen. Sie zeigen das Jesuskind – mal aus Holz, mal aus Keramik, Stoff oder Wachs - unter schattigen Palmen, in staubigen Wüsten oder zwischen Ochs und Esel in einem schäbigen Stall.

Am Ende ihres Lebens hat Gertrud Weinhold ihre Schätze nach Berlin und München gegeben. Seit 1986 ist ein Teil der Sammlung in Schloss Schleißheim zu sehen. Bei der Eröffnung saß sie schon im Rollstuhl, damals sprach sie ein letztes Mal vor Publikum:

"Die Dinge sind Bedeutungsträger. Es wurde einmal von Martin Buber gesagt, jedes Geschaffene birgt göttliche Funken. Auch die Dinge haben göttliche Funken. Wir hoffen, dass Sie hier in Bayern diese Dinge und das Museum in ihren Lebenskreis aufnehmen. Und ich darf bitten – liebe Münchner – seid gut zu den Dingen!"

Seid gut zu den Dingen – penibel, bis ins kleinste Detail hat Gertrud Weinhold über die Einrichtung ihrer Vitrinen gestritten.

Gerhard Bogner: "Zum Teil sogar wütend gestritten, weil sie bis zur Grenze des Kitsches eine Buntheit, eine ansprechende Darstellung und einen Schmuck in den Vitrinen haben wollte, wo die Museumsleute längst gesagt haben: Um Gottes willen, das ist ja nicht mehr objektiv, das kann man ja doch unter dem Dach eines Museums gar nicht vertreten."

Nein, das muss mehr nach links, dahinten fehlt etwas Grün und ein wenig mehr Gold für das Jesuskind. Gerhard Bogner kann sich noch gut erinnern. Bis heute können sich die Museumsbesucher die Exponate von Gertrud Weinhold persönlich auf einem Audio-Guide erklären lassen:

"Zu allererst grüßt uns ein farbenprächtiger Lebensbaum, Paradiesbaum, die Mexikaner nennen ihn Arbol de la Vida. Er steht auf einer Stickerei und will die Urgeschichte der Menschheit in die Herzen rufen oder prägen."

Marianne Stößl leitet die Münchner Sammlung. Sie hat oft überlegt, was Gertrud Weinhold mit ihren Vitrinen den Besuchern vermitteln wollte:

"Und da hat mir jemand aus ihrem Freundeskreis gesagt: Sie müssen bedenken, Weinhold ist in der Kaiserzeit aufgewachsen, sie kannte noch die großen Berliner Panoramen. Hinter diesem Fenster tut sich eine wunderbare Welt aus allem Möglichen zusammen. Es ist die Fülle, sie hat ja auch ein Diktum gehabt: Schöpfung ist immer die Fülle. Das war ihr das Liebste. Es ist die gesamte Fülle des Lebens."

1899 wurde Gertrud Weinhold als preußische Beamtentochter in Berlin geboren. Sie besuchte Lehrgänge der Evangelisch-Sozialen Schulen und machte eine Ausbildung zur Webmeisterin.

"Sie hatte auch immer bei sich zu Hause einen Webstuhl stehen. Das Weben ermöglicht, ein Werk entstehen zu sehen – mit jedem Faden, wie es wächst, wie es sich aufbaut. Sie hat natürlich auch immer gesagt, das kreuzweise Übereinanderlegen von Fäden hat eine religiöse Implikation, das kann man natürlich verstiegen nennen, aber es ist auf jeden Fall heiliges Handwerk."

Damals pflegte sie Kontakte zu rechtskonservativen Pfarrern der evangelischen Landeskirche. Von ihnen bekam sie die ersten Krippen für ihre Sammlung. In Berlin ist Konrad Vanja oberster Schutzherr der umfangreichen Weinhold-Sammlung. Einige Exponate werden im nördlichen Brandenburg – im Kloster Stift zum Heiligengrabe – ausgestellt. Der große Rest steckt in einem Archiv in Berlin-Dahlem, das zum Museum Europäischer Kulturen gehört.

Ein ganzes Stockwerk ist von oben bis unten mit Zigtausend Objekten religiöser Alltagskunst aus 60 Ländern vollgestellt: südamerikanische Lebensbäume, Marienstatuen aus Polen und unzählige Krippen. Konrad Vanja zeigt auf einen verglasten böhmischen Krippenkasten mit filigranen Wachsfiguren:

"Sie sind eben immer sehr fein dekoriert und ausgestattet gewesen. Das wächserne Christkind auf einem wunderschönen, mit Spitzen ausgezierten Kissen. Engel, die das Kind bewachen und bewahren. Dahinter natürlich Maria und Joseph in einem Kleiderschmuck, der nun sicher nicht den Verhältnissen von Bethlehem im Jahre null entsprochen hat, insbesondere fällt einem eben häufig ein, dass man dort in eine fürstlich, königliche Atmosphäre hineinging, was natürlich Christus als Sohn Gottes ja auch gebührte."

Die Krippen haben eine lange Geschichte. Im 16. und 17. Jahrhundert wurden sie von den Jesuiten gegen die Protestanten in Stellung gebracht. Später wurden die volkstümlichen Krippen aus den Kirchen verbannt und wanderten in die Wohnstuben der Christen und begleiten seitdem im häuslichen Rahmen das Kirchenjahr.

"Hier gibt über das Weihnachtsgeschehen hinaus, über den Besuch der drei Heiligen Könige bei dem neugeborenen Christkindlein natürlich auch weitere Formen, die dazugehören. Denken wir nur an das große Thema der Passion, das Leidensgeschehen auf der einen Seite, das letzte Abendmahl, was dazu hinführt, das Thema des letzten Versuches von Christus im Garten Gethsemane, das Leid vielleicht von sich noch einmal abzuwenden, das sind natürlich Themenbereiche, die heute aus dem Jahr unseres Kalenders vielfach verschwunden sind."

Die thematischen Krippen des Kirchenjahrs sind kaum noch bekannt. Geblieben sind die Weihnachtskrippen, sie erzählen die Ereignisse um Christi Geburt, oft werden sie mit sagenhaften Szenen ausgeschmückt, wie die Geschichte mit der Palme, von der Gerhard Bogner erzählt:

"Maria ist auf der Flucht müde und hungrig, verzweifelt. Und sie setzt sich dahin, und die Palme beugt sich herunter und gibt ihr die Früchte. Welch wundervolles Bild! Oder Sie gehen weiter und da ist die uralte ägyptische Prophetie, wenn eine Jungfrau mit ihrem Kind die Grenze überschreitet, wird das ägyptische Reich zerfallen. Jeder hat gesagt das gibt`s nie, keine Jungfrau kann mit einem Kind kommen, und in der Heliopolis ist es geschehen, und in vielen Krippen sieht man den Göttersturz."

Für Gertrud Weinhold wurde das Sammeln zur Obsession: Krippen aus Mexiko, der Provence und Neapel. Wunderbare Zirbelholz-Krippen aus dem Zillertal, Krippen-Berge aus Böhmen und mechanische Krippen, gestaltet von Bergleuten aus dem Erzgebirge. Und nicht zuletzt die glanzvollen Krakauer Krippen aus Karton und bunten Metallpapier, mit hohen Türmen, die sich die Marienkirche am Hauptmarkt zum Vorbild nehmen.

Konrad Vanja: "Das Leben mit diesen Objekten, von denen sie wirklich mit leuchtenden Augen erzählen konnte, bei wem sie dieses Objekt gefunden hatte und wie dieser Mensch mit dem Objekt umgegangen ist, wie er es in der Winterszeit etwa geschnitzt hat, und dass es ihr eben gelungen ist, dann mit einer solchen Sammlung, ja fast wie ein Mission Statement, wie man das modern sagen würde, zu sagen: Ja ich bringe Leben, ich bringe Erfahrung und ich bringe eben auch das Jenseitige mit in unsere Welt und möchte das auch den Menschen zeigen."

Seid gut zu den Dingen! Die liebevoll gestalteten Weihnachtskrippen tragen den Wunsch von Gertrud Weinhold weiter. Die Krippen verbinden die Botschaft von Christi Geburt mit ganz unterschiedlichen Lebenswelten. Sie sind volkstümliche Fixpunkte in der globalisierten Welt. Auch das wollte uns Gertrud Weinhold sagen.

Zum Thema:
Homepage des Museums Europäischer Kulturen
Homepage des Klosters Stift zum Heiligengrabe
Homepage des Bayerischen Nationalmuseums