Salvatore Settis: Die Zukunft des "Klassischen"

Vorgestellt von Jürgen Kaube |
Was ist Bildung? Fast einhundertfünfzig Jahre lang gab es in Europa auf diese Frage eine bündige Antwort: Bildung ist Kenntnis der Antike. Als gebildet galt, wer wusste, was es mit Homer und Platon, Cicero und Seneca auf sich hat.
Gustav Schwabs "Sagen des klassischen Altertums" waren ein Hausbuch des deutschen Bürgertums. Johann Joachim Winckelmann hatte die absolute Vorbildlichkeit der griechischen Bildhauerei und Architektur für die Kunst behauptet. "Beim Namen Griechenland", so formulierte Hegel 1823, "ist es dem gebildeten Menschen in Europa, insbesondere uns Deutschen, heimatlich zumute". Die klassische Antike galt als Maß aller Kultur. Dass an den Gymnasien Latein und Griechisch gelernt wurde, erschien selbstverständlich.

Mit dieser Selbstverständlichkeit ist es vorbei. In den Lehrplänen wird auf die Geschichte Griechenlands und Roms immer weniger Zeit verwandt. Senecas Tragödien, die griechische Plastik oder die antiken Versmaße gehören in den Künsten nicht mehr zum Kanon. Wer weiß noch, wie die Mutter von Achill heißt? Die Antike ist längst zu einem Gegenstand für Fachleute geworden. Und, wie der italienische Kunsthistoriker Salvatore Settis jetzt in einem glänzenden Essay ausführt, zum Gegenstand von Beschwörungen.

"Je weniger man über die griechische und römische Antike weiß (...), desto mehr verfestigt sich in unserer Kulturlandschaft das Bild des 'klassischen Altertums' (...) als tiefste einzige Wurzel der abendländische Kultur, als Ort der wichtigsten und höchsten Werte (wie beispielsweise der Demokratie). Diese Vorstellung verstärkt sich (...) ausgerechnet in dem Moment, in dem gerade im Westen die Allgemeinbildung und die gängigen Bildungseinrichtungen immer mehr von der Kultur des 'klassischen' Altertums Abschied nehmen. Je weniger Griechisch und Latein gelernt wird, je weniger die klassischen Texte gelesen werden, um so mehr ist von Griechen und Römern die Rede, aber in immer erstarrteren, konventionelleren und lebloseren Floskeln."

Wie es dazu gekommen ist, das erörtert Settis auf knapp einhundert Seiten. Sie gehören zum Besten, was man derzeit zu Frage des klassischen Bildungskanons lesen kann. Settis führt den Leser mit großer Kenntnis und Eleganz durch die Kunstgeschichte der vielen Wiederentdeckungen und Renaissancen des klassischen Altertums im Verlauf der letzten achthundert Jahre. Wie wurde die dorische Säulenordnung zum Muster für die moderne Architektur? Warum sind Europäer schon seit langem so sehr in Ruinen und Torsi verliebt? Was bedeutet es, dass für manche Epochen die Griechen und der Parthenon, für andere aber die Römer und das Pantheon zum ästhetischen Vorbild wurden? Auf jeder Seite seiner Studie macht Settis durch die Beantwortung solcher Fragen deutlich, dass die vermeintlich zeitlosen Maßstäbe immer schon eine Geschichte gehabt haben. Sein Leitmotiv ist dabei die Idee des "Klassischen". Denn eben im Begriff des "klassischen Altertums" wird ja mitgeteilt, dass es nicht irgendeine Epoche ist, sondern eine, deren Hervorbringungen auch für uns noch Gültigkeit besitzen.
Diese Wortverwendung ist neueren Datums.

"Im Lateinischen war der Begriff classicus nicht entstanden, um Erscheinungen ... der Kunstgeschichte zu bezeichnen, sondern stammte aus dem Bereich von Politik und Wirtschaft. ... Classicus war ein Bürger, der der höchsten Steuerklasse angehörte, und nur im übertragenen Sinne nannte Aulus Gellius im 2. nachchristlichen Jahrhundert einen Autor 'classicus scriptor, non proletarius', bezeichnete ihn also als einen hervorragenden Schriftsteller und nicht als einen der Masse."

Ein Klassiker war also zunächst einfach nur einer, der für die Besserverdienenden schrieb. Erst viel später kommt der Terminus "klassisch" in allgemeinen Gebrauch - und zwar für vorbildliche Schriftsteller. Erst im 19. Jahrhundert setzt sich der Begriff 'klassisch' dann als Synonym für Griechen und Römer durch. Das aber geschah paradoxerweise gerade in dem Augenblick, in dem die Altertumswissenschaft begann, das Bild einer einheitlichen, durch edle Einfalt und stille Größe bestimmten Antike aufzulösen. Die forschende, die ästhetische und die pädagogische Einstellung zur Antike trennen sich. Die Wissenschaft entdeckt immer neue Altertümer, aber Kunst und Erziehung können immer weniger damit anfangen. Die Antike beeindruckt nicht mehr durch Vorbildlichkeit, sondern durch Fremdheit.

Settis beklagt das nicht. Denn für ihn ist der Versuch, die humanistische Bildung durch eine Rückkehr zu Einstellungen des neunzehnten Jahrhundert wiederzubeleben, ganz vergeblich.

"Welche Rolle kann die Antike heute noch spielen in einer Welt, die immer mehr von der Vermischung von Völkern und Kulturen geprägt ist, von der Verurteilung des Imperialismus und vom Ende der Ideologien, von der stolzen Selbstbehauptung ethnischer und nationaler Identitäten und lokaler Traditionen gegen jede Form kultureller Hegemonie? Welchen Sinn hat es, 'gemeinsame' Wurzeln zu suchen, wenn jedermann damit beschäftigt ist, seine eigenen von denen des Nachbarn zu unterscheiden? Wie können wir uns rühmen, bei Marathon über die 'Anderen' gesiegt zu haben, ohne dabei an Algerien oder Vietnam zu denken? Woher nehmen wir das Recht, von Chinesen und Indern zu fordern, sich in Griechen und Römern wieder zu erkennen und sich mit einem ganz und gar europäischen 'Wir' zu identifizieren, ohne ihnen im Gegenzug anzubieten, uns mit ihrer Antike identifizieren zu wollen?"

So enthält dieses außergewöhnlich kluge Buch zum Schluss eine Aufforderung. Ja, wir haben die Griechen und Römer als überzeitliche Maßstäbe unserer Kunst, unserer Ethik und unserer politischen Ideen verloren. Aber wir können sie wiedergewinnen als Beispiel dafür, dass uns unsere eigene Vorgeschichte ähnlich fremd geworden ist, wie uns andere Kulturen oft erscheinen. Statt eines unveränderlichen Modells würde das klassische Altertum, so verstanden, zu einer unendlich reichen Anregung darüber nachzudenken, wie uns eine Kultur zugleich fremd und nahe sein kann.

Salvatore Settis: Die Zukunft des "Klassischen" - Eine Idee im Wandel der Zeiten.
Aus dem Italienischen von Friederike Hausmann
Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2005