Salvatore aus Ostfriesland

Von Andreas Malessa · 20.06.2009
Mit "Das erste Evangelium nach Matthäus" schrieb Pier Paolo Pasolini in den 60er-Jahren Kinogeschichte. Arnold Stadler knüpft mit seiner Erzählung "Salvatore" an diesen Film an.
Der Schwarzweißfilm "Das erste Evangelium Matthäus" von Regisseur Pier Paolo Pasolini aus dem Jahr 1964 war nicht der erste "Jesus-Film" der Kinogeschichte, aber der erste, der die biblische Handlung ins Heute verlegte. Mit Laiendarstellern und im Ambiente süditalienischer Dörfer der 60er-Jahre des 20. Jahrhunderts.

Mehr als 40 Jahre später, im katholischen Gemeindehaus einer niedersächsischen Kleinstadt, schaut sich ein Mann namens Salvatore den Film noch einmal an. Er, der verträumte, sensible, zum philosophischen Grübeln neigende Sohn eines italienischen Gastarbeiters aus Kalabrien, verheiratet mit einer sehr praktisch denkenden norddeutschen Wirtschaftsprüferin, war mal Ministrant, studierte kurzzeitig sogar Theologie, ist jetzt, Anfang 50, aber ein hochverschuldeter Unternehmensberater und hält Seminare, die seine Frau ausgearbeitet hat.

Salvatore hat heute frei. Am Himmelfahrtstag. Am "Vatertag", wie die Angler an der Elbe und die Wanderer im Biergarten sagen.

"Salvatore hatte Erbarmen mit ihnen, nun meist mit dem Schwanz nach unten, zu nichts anderem mehr gut, als das Bier wieder los zu werden. Die Bedienung brachte 'ein erstes Bier'. Da war es ihm eingefallen: Vatertag! Doch kein Spaß der Welt konnte seine Sehnsucht ersetzen, das Verlangen, ein anderer zu sein, an einem anderen Ort, zu einer anderen Zeit. Und dann gab es noch das Verlangen nach dem ganz Anderen, als wäre dies der neue Name für Gott. Salvatore war Gott bisher nicht begegnet und konnte nicht 'Du' sagen zu jemandem, den er überhaupt nicht kannte, wenn er sich auch nach ihm sehnte wie nach niemandem sonst. Wie er sich wenigstens nach einem Menschen sehnte, der mit Gott per Du war!"

Diesen Menschen aber trifft Salvatore nicht mal unter den zwölf kläglich singenden, unbeholfen respondierenden Kirchgängern einer Messe, in die er am Himmelfahrtsmorgen geht. Zum ersten Mal seit zwanzig Jahren. Und so ändert er seine Pläne für den Nachmittag:

"Statt nach Fallingbostel in den Swingerclub musste er nun in diesen Film. Regisseur Pasolini war damals, Anfang der 60er, in Kalabrien herumgefahren mit einer Sonnenbrille vor den Augen auf der Suche nach den richtigen Darstellern für seinen Film und hatte dabei Salvatores Verwandtschaft entdeckt. Stolz und irgendwie im Herz getroffen waren sie, darüber, dass Jesus und Pasolini ausgerechnet auf Menschen wie sie gestoßen waren, sie waren doch nur einfache Leute, die hungrig und sprachlos ihre Spaghetti in sich hineingabelten. Sie hatten alle mitgespielt, von Matthäus bis Judas, seine zwei Onkel waren dabei und irgendwann im Gefängnis gelandet, denn die Geschichte war nach dem Matthäus-Evangelium weitergegangen. Und dann damals im ostfriesischen Leer, mit der ganzen Familie an Karfreitag im Fernsehen. Nur störte, dass Jesus deutsch sprach. Und immer wieder hatte es geheißen 'Guarda! Schau, jetzt kommt Onkel Pino!' Aus den Brotausteilern, Erntehelfern und von Jesus berufenen Sündern am See Genezareth waren Mörder und so fort geworden. Sie hatten es alle nicht geschafft. Und was war aus ihm geworden?"

Salvatore spürt vor den düsteren, kargen Bildern des Pasolini-Films, dass die Frage "Ist das nicht einer von uns?" in Wirklichkeit heißt "Ist das noch einer von uns?" und dass ihm, hier und jetzt, gegen die Einsamkeit der Ausgrenzung nur der Schlusssatz des Erlösers im Film helfen wird: "Ich bin bei Euch alle Tage."

"Mit diesem Versprechen verließ Salvatore das Kino auf einem Nachhauseweg, als wäre dieser nun endlich der richtige. Salvatore war erfüllt von einem Dazugehörigkeitsverlangen. Erfüllt von einer Musik, in der das Hoffen auf ein Kommen mit dem Kommen zusammenfiel, die Sehnsucht mit der Erfüllung."

Schriftsteller Arnold Stadler, mehrfach ausgezeichneter Literat und Georg-Büchner-Preisträger, hat bis zur Seite 153 seines neuesten Buches eine atemberaubende, eine sprach-stilistisch hochkarätig geschliffene Erzählung vorgelegt über einen verzweifelten Mann, der in den Laiendarstellern des berühmten Jesusfilms von Pasolini seine Vergangenheit, seine Gegenwart und seine noch verbleibende Zukunft findet.

Es ist die Geschichte eines Verlorenen, der – hochreflektiert – seinen Kinderglauben wieder entdeckt. Dann aber, auf den letzten 70 Seiten des Buches, kippt Arnold Stadler aus der Belletristik ins Sachbuch-Genre. Ein Ich-Erzähler – der arme zart besaitete Salvatore kann es nicht sein – wettert redundant und mit abgegriffenen Argumenten katholischer Traditionalisten gegen die historisch-kritische Bibelauslegung im allgemeinen und Uta Ranke-Heinemann im Besonderen.

"Unter einer solchen theologischen Metzgerschaft einen Gläubigen auszumachen, dürfte wahrscheinlich fast so schwer sein wie es für Luther war, in Rom einen Beichtvater zu finden, (Das war ja, so heißt es, der eigentliche Ausgang von Luthers sogenannter Reformation). Als könnten wir einfachen Menschen nicht lesen, als bedürften wir der Erklärungen dieser Wildsau-Theologie!"

Das, mit Verlaub, ist eine Bildungslücke und ein grobes Missverständnis. Der Autor erläutert dann noch, warum er Gottesdienstübertragungen im Deutschlandfunk nicht mag und diskutiert im Stil einer Cineasten-Runde das "Making of" dieses Kinofilms, das tragische Ende des Regisseurs Pasolini und das Caravaggio-Gemälde "Die Berufung des Matthäus". Der Leser, noch ganz fasziniert und benommen von der wunderbar gezeichneten Gestalt des Salvatore, wird kurzerhand aus der Geschichte gekegelt und bekommt keinen Erzählfaden mehr verwoben. Der S.Fischer-Verlag hat zwei völlig verschiedene Bücher zwischen dieselben Buchdeckel geklebt: Eine hinreißende Erzählung und eine , zum Glück kurze, Polemik.