Sag die Wahrheit!

Mit Aufkommen der Postmoderne hatte die Wahrheit keinen guten Stand mehr: schließlich wird jede Menge Unrecht im Namen irgendeiner Wahrheit begangen. Der amerikanische Philosoph Harry G. Frankfurt sieht das Festhalten an einer Wahrheit einfach als pragmatischen Akt, sonst wären viele Alltagshandlungen schlechterdings unmöglich. Sein Essay über die Wahrheit ist nicht nur leicht verständlich, sondern höchst unterhaltsam.
Hätte man den unlängst verstorbenen Philosophen Richard Rorty gefragt, welcher philosophische Grundbegriff in der Geschichte am meisten Unheil angerichtet hat, er hätte nicht lange überlegen müssen. Das Festhalten an der Überzeugung, dass es so etwas wie eine für alle verbindliche, objektive Wahrheit gibt, war für Rorty der Sündenfall der abendländischen Philosophie. Seien es religiöse, rassistische oder politisch motivierte Gewalttaten, sie alle berufen sich letztendlich darauf, im Besitz einer Wahrheit zu sein, die noch die grausamste Brutalität zu einem Akt rationaler Folgerichtigkeit macht.

Der amerikanische Philosoph Harry G. Frankfurt plädiert in seinem kleinen Büchlein "Über die Wahrheit" für einen entspannteren Umgang mit der Wahrheit. Sein Argument hakt zunächst an einem Punkt ein, der immer wieder gegen den postmodernen Skeptizismus im Stile Rortys ins Feld geführt wird. Denn um sinnvoll behaupten zu können, dass es keine objektive Wahrheit gibt, muss diese Behauptung einen Wahrheitsanspruch beinhalten, der sie ausgerechnet im Falle seiner Rechtmäßigkeit als unwahr erweisen würde. Kurz gesagt, der Satz "Es gibt keine Wahrheit" kann nicht wahr sein.

Harry Frankfurt hält sich glücklicherweise im Unterholz erkenntnistheoretischer Debatten nicht lange auf. Ihm geht es um den alltagspraktischen und laiengerichteten Nachweis, dass wir "ohne die Wahrheit einfach nicht leben können." Schon die einfachsten Handlungen und Vereinbarungen wären ohne die stillschweigende Voraussetzung, dass die daran Teilnehmenden die Wahrheit sagen, schlechterdings unmöglich.

Wer schon mal in einen Verkehrsunfall verwickelt war, weiß in der Regel sehr genau, was es heißt im Bezug auf Namen und Anschrift die Wahrheit zu sagen. Für einen Bauingenieur ist die wahrheitsgemäße Kenntnis der Baustoffe und ihrer Eigenschaften eine Grundvoraussetzung, von der im Ernstfall Menschenleben abhängen. Hier folgt Frankfurt dem Utilitarismus: Es ist für eine Gesellschaft nützlich, sich an die Wahrheit zu halten, wenn kein Schaden entstehen soll. Das Argument greift gegen die Behauptung, Wahrheitsansprüche seien immer perspektivabhängig und damit letztlich relativ, ihm entgeht aber die Kehrseite der Medaille, die für Rorty den Begriff der Wahrheit so unappetitlich machte.

Sehen wir uns deshalb Frankfurts Argument etwas genauer an. Seine Pointe besteht darin, dass er auch Werturteile letztlich als Tatsachenbehauptungen versteht. Wenn wir zum Beispiel von einer Person behaupten, sie sei treulos, dann müssen wir uns auf ihr untreues Verhalten als Faktum beziehen. Ein Ehepartner muss wirklich fremdgegangen sein, um ihm amoralisches Verhalten vorwerfen zu können. Wir brauchen also einen handfesten Beleg, sonst erfüllt unsere Behauptung den Straftatbestand der Verleumdung.

So weit so gut. Was ist aber mit Sätzen der Art "Es gibt einen gnädigen Gott"? Dabei handelt es sich um eine Behauptung, die wir weder beweisen, noch widerlegen können. Für einen religiösen Menschen ist sie aber nichts als die lautere Wahrheit. Stellen wir uns nun einen Gläubigen vor, der sich ebenfalls im Lichte einer Wahrheit wähnt: "Gott hat mir befohlen, gegen die Ungläubigen mit dem Schwert vorzugehen." Mit dem Hinweis auf die Tatsachen werden wir einem durchgedrehten Fundamentalisten wohl kaum beikommen. Deswegen ist die Entspannungstherapie, die uns Harry Frankfurt in Bezug auf die Wahrheit verordnen möchte, eben nur zur Hälfte wahr.

Wenn hier der Rezensent trotzdem behauptet, bei Harry Frankfurts Essay handele es sich um eine auf nicht einmal hundert Seiten komprimierte, leicht verständliche und äußerst unterhaltsame Einführung in ein hochkomplexes Gebiet, kann der Leser getrost davon ausgehen, dass er nicht arglistig hinters Licht geführt wird. Sollten Sie in der Buchhandlung auf eine 500-Seiten-Schwarte in Fachchinesisch stoßen, wäre Ihre Empörung ein hinreichender Beweis dafür, wie wichtig wir die Wahrheit nehmen sollten.

Rezensiert von Ralf Müller-Schmid

Harry G. Frankfurt: "Über die Wahrheit"
Übersetzt von Martin Pfeiffer
Hanser, München 2007
94 Seiten, 10 EUR