"Sacred Harp"

US-Chortradition wird in Deutschland populär

Sacred Harp Singen in Deutschland
Sacred Harp Singen in Deutschland © Foto: Caro Stamm-Reusch
Von Kerstin Poppendieck · 02.06.2016
"Amazing Grace" ist einer der meistgesungenen und -interpretierten Songs weltweit. Der Song gehört zur Gesangstradition "Sacred Harp", der "Heiligen Harfe", wird von Schulchören und US-Präsident Barack Obama gesungen – und in Berlin.
Berlin Neukölln. Jeden Donnerstagabend treffen sich hier die Mitglieder der Berliner Sacred Harp Gruppe. Mal sind es 20, heute sind es 12 – die Zahl schwankt. Allerdings sollten es mindestens vier Leute sein, so dass es für jede Gesangsstimme wenigstens einen Sänger gibt. Und so sitzen sich die Sänger der vier Gesangsstimmen gegenüber und singen sich lauthals an. Caro Stamm-Reusch ist einem Jahr bei der Gruppe dabei. Es ist kein Chor, das ist ihr wichtig.
"Wenn man in einem normalen Chor singt, dann ist es ja meistens so, da werden die einzelnen Stimmen nacheinander durchgeprobt. Dann heißt es, so, jetzt üben wir mal den Alt. Dann sitzt man da im Sopran und langweilt sich. Dann gibt es den Chorleiter, der alles bestimmt in der Mitte, der den Chor dirigiert wie sein Instrument. Es hat mir auch immer Spaß gemacht, aber beim Sacred Harp singen ist wirklich der Unterschied dieses unmittelbare, auch dieses demokratische und Egalitäre. Wir sitzen zu vier Stimmen zusammen, es gibt keinen Chorleiter, der sagt, was gemacht wird, sondern die Sänger suchen sich Songs aus, jeder einen. Der tritt dann in die Mitte, leitet diesen Song, setzt sich wieder hin, kommt der nächste dran."

Shape Notes gibt es nur beim Sacred Harp Gesang

Und es wird auch nicht geprobt, sondern mit der Shape Note Technik einfach drauflos gesungen. Diese Shape Notes gibt es nur beim Sacred Harp Gesang. Anfang des 19.Jh. wurden sie erfunden, um auch Musiklaien das Singen nach Noten zu ermöglichen. Und Shape Notes heißen sie deshalb, weil sie in unterschiedlichen Formen geschrieben werden: das Fa ist ein Dreieck, das So ist ein Kreis, La ist ein Viereck und das Mi eine Raute. Bevor ein Lied mit dem richtigen Text gesungen wird, singt man ihn erstmal mit den Shape Notes. Sie entsprechen im Grunde aber einer vereinfachten, da reduzierten Tonleiter. Cherilyn Nielson gibt den Ton an, der Rest der Gruppe stimmt ein.
"Im Prinzip sind das Solmisationssilben. Die meisten Leute kennen ja Do Re Mi Fa So La Ti, das sind sieben Silben. In unserem Fall sind es nur vier, nämlich Fa So La und Mi, die reichen aber, um die ganze Tonleiter abzudecken. In der Dur Tonleiter hat man immer als Grundton das Fa und das geht dann so (singt Tonleiter). Und da hat man die Dur-Tonleiter. Und die ist, egal in welcher absoluten Tonart ich mich jetzt befinde, ist das immer gleich. Und wenn man immer diese Shapes singt, dann prägt sich das irgendwann im Gehör so ein, dass man dann weiß, ok, wenn mein Fa jetzt dieser Ton ist, dann klingt da dazugehörige So genauso, wie es klingen soll."
Amazing Grace – wohl das bekannteste Lied aus dem Sacred Harp Repertoire, das aus mehreren hundert Liedern besteht und bis heute regelmäßig erweitert wird, wobei zumeist alte Texte neu arrangiert werden. Amazing Grace erschien das erste Mal Ende des 19. Jahrhunderts in einem Gesangsbuch, und das war ein Shape Note Gesangsbuch. Seitdem wurde es unzählige Male neu interpretiert und nur wenige Menschen wissen, dass Amazing Grace ursprünglich der Sacred Harp Tradition entstammt.

Tradition kommt aus den Südstaaten

In Deutschland wird Sacred Harp erst seit 5/6 Jahren gesungen. Ursprünglich kommt die Tradition aus den Südstaaten der USA. Dort singt man schon seit ungefähr 200 Jahren nach den Shape Notes. Die Texte sind alle religiös, handeln von Gott, Glaube, christlichen Werten. Im Vergleich zu den USA, wo diese Gesangstradition schon seit zwei Jahrhunderten von Generation zu Generation weitergegeben wird, ist die Sacred Harp Szene in Deutschland auch vom Alter der Sänger und Sängerinnen her vergleichsweise jung. In Berlin singen Leute zwischen Anfang zwanzig und Mitte fünfzig.

Christoph Schuller kommt aus den Südstaaten der USA, aus Nashville/Tennessee, aber mit den Sacred Harp Singen hat er sich erst nach seinem Umzug nach Berlin angefangen.
"Die Musik ist auch nicht ursprünglich in Gottesdiensten gesungen worden, sondern wurde in einer Art Gesangunterricht gesungen, wo reisende Lehrer einfach Lieder gesungen haben. Und auch nachdem die Lehrer weg waren, haben die Menschen das dann außerhalb des Gottesdienstes, haben sie sich dann getroffen, um weiter zu singen. Und das machen sie auch heutzutage regelmäßig in den Südstaaten."
Und so wie schon vor 200 Jahren in den Südstaaten der USA wird bis heute Sacred Harp laut gesungen. Sehr laut.
Offensichtlich ist das ein ungeschriebenes Gesetz. Caro Stamm-Reusch erklärt sich das so, dass diese ersten Sacred Harp Sänger oftmals einfache Landbewohner ohne klassische Musikausbildung waren, die einfach drauf los gesungen haben. Und das war dann eben laut. Sacred Harp leise zu singen käme aber auch für sie nicht in Frage.
"Wenn man in diesem Viereck sitzt, es ist schon umso toller, je lauter es ist. Und umso toller, je mehr Leute es sind. Das ist auch ein Teilaspekt des Sacred Harp Singens, dass es wirklich keine Musik für Publikum ist, es ist eigentlich Musik zum Mitmachen. Man wird richtig mitgerissen von diesem Gesang. Das ist eine richtige körperliche Erfahrung auch. Und da ist die Lautstärke ein wichtiger Teil davon. Das würde nicht so funktionieren, wenn das leise und moduliert wäre."