Sachbuch

Was du nicht siehst

Ein menschliches Auge
Thomas Ditzinger hat Spannendes über die 126 Millionen Sehzellen unserer Augen zu erzählen. © dpa/picture alliance - John Stillwell
Von Gerrit Stratmann |
Wir sind Augentiere. Rund 80 Prozent der Informationen, die unser Gehirn verarbeitet, nehmen wir über die Augen auf. Ein guter Grund sich für die faszinierende Welt unseres Sehsinns zu interessieren und Thomas Ditzingers lehrreiches und zeitloses Kompendium zu lesen.
In den 90er-Jahren gab es eine Buchreihe namens "Das magische Auge". Darin waren Bilder aus chaotischen farbigen Mustern, in denen eine geheime, dreidimensionale Szenerie verborgen war, die man entdecken konnte, wenn man nur lange genug hinsah. Bei mir hat das nie funktioniert. 20 Jahre später kann ich sagen: Ich habe es gesehen! Dank Thomas Ditzinger.
In "Illusionen des Sehens" beschreibt er solche Autostereogramme, in denen man in zweidimensionalen Punktlandschaften 3D-Strukturen entdecken kann, ganz ohne technische Hilfsmittel wie Shutter- oder Polarisationsbrille. Das ist schwierig, weil unsere Augen normalerweise immer auf den Punkt scharf stellen, den sie fixieren. Aber damit die Bilder an Tiefe gewinnen, muss man quasi hinter sie blicken, also Blickrichtung und das Scharfstellen voneinander entkoppeln. Das braucht Übung, und Thomas Ditzinger bietet reichlich Gelegenheiten, die eigene Sehfähigkeit zu überprüfen – oder in Frage zu stellen.
Denn "Illusionen des Sehens" ist ein Buch, dessen Bilder mindestens so lange zum Verweilen einladen wie der Text. Auf fast jeder Seite sind Beispiele, die einem buchstäblich vor Augen führen, dass wir die Welt nicht sehen wie sie ist, sondern wie unsere Augen und unser Gehirn sie uns darstellen. Unmerklich nimmt unser Sehapparat Korrekturen vor. Helligkeit, Größenunterschiede, Farben – über all das können wir uns irren. In acht Kapiteln wird erklärt, warum nachts wirklich alle Katzen grau sind, wie solche Seh-Irrtümer zustande kommen und was sich aus ihnen für Erkenntnisse über die Funktionsweise der 126 Millionen Sehzellen unserer Augen ableiten lassen. Hintergründe zur Natur des Lichts, den Aufbau unserer Augen, dem Farbensehen, dem Erkennen von Bewegung, der Tiefenwahrnehmung und zum dreidimensionalen Schauen runden die Themen ab.
3D-Techniken in Kino und Fernsehen berücksichtigt
Ja, manchmal kommt der Text etwas technisch daher mit vielen Bezeichnungen, die sich kaum ein Mensch merken kann (Craig-Cornsweet-O'Brien Täuschung, Kanizsa Dreieck, Purkinje Effekt, Ouchi Illusion, Alexandersche Dunkelzone etc.). Schade auch, dass es zu mehrdeutigen Bildern aus der Kunst kein einziges Beispiel von Escher, Dali oder Magritte gibt. Aber der Status des Buches als lehr- und abwechslungsreiches Kompendium unserer Seh-Wahrnehmung ist dadurch nicht gefährdet. Das zeigt schon die Tatsache, dass es nach so vielen Jahren noch einmal neu und erweitert aufgelegt wird (die erste Fassung des Buches stammt noch aus den 90er-Jahren).
Mitunter merkt man dem Buch sein Alter an. Selbst in der jetzigen aktualisierten Neuauflage empfiehlt der Autor noch, einen Plattenspieler zum Drehen mancher Figuren zu benutzen, um einige Illusionen sichtbar zu machen. Wer hat den noch? Aktuell sind dafür die Hinweise auf neuere 3D-Techniken in Kino und Fernsehen. Aber das Entscheidende ist, dass "Illusionen des Sehens" dem Leser ein gutes Stück die Augen öffnet über sich selbst. Eine zeitlose Qualität.

Thomas Ditzinger: "Illusionen des Sehens. Eine Reise in die Welt der visuellen Wahrnehmung"
Springer Spektrum Verlag, Berlin Heidelberg 2014
2. überarbeitete und erweiterte Auflage
282 Seiten, 29,99 Euro

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