Sachbuch

Vorläufer des Museums

Von Ingo Arend · 20.03.2014
Hennings Ritters posthum erschienener Band über die "Wiederkehr der Wunderkammer" wirft auch einen Blick auf aktuelle Ausstellungspolitiken. Die Wunderkammer als Vorläufer des Museums sei heute wieder aktuell, argumentiert der ehemalige Redakteur der "FAZ".
Als der Sammler Thomas Olbricht 2010 in Berlin-Mitte sein Privatmuseum “me collectors” eröffnete, rümpften viele die Nase. In den Bau für eine der größen Kunstsammlungen Europas hatte der Mediziner auch eine permanente “Wunderkammer” mit Objekten aus Barock und Renaissance integriert: Ein Kokosnuss-Pokal Alexander von Humboldts stand neben einem präparierten Krokodil und alten Kabinettmöbel. Olbricht wollte die Besucher damit das Staunen lehren. Andere monierten die Wiederkehr einer vormodernen, dynastischen Öffentlichkeit.
Henning Ritter hätte das nicht gewundert. Denn die Wunderkammer ist der Dreh- und Angelpunkt des modernen Kunstsystems, dessen Herausbildung der 1943 geborene und 2013 verstorbene, ehemalige Redakteur der "FAZ" in seinem postum erschienenen Buch über “Kunst und Künstler” nachzeichnet. Im Gefolge der französischen Revolution, so zeigt er darin, entwickelte sich aus der fürstlichen Wunderkammer mit ihren “kuriosen Objekten” das Kunstmuseum. Es folgte einer Chronologie, schuf eine bürgerliche Öffentlichkeit, trennte die in der Wunderkammer aber noch vereinten Kunst und Wissenschaft endgültig : Kulturrevolution und "Leitinstitution der modernen Gesellschaft” in einem.
Virulentes Prinzip
„Die Wiederkehr der Wunderkammer“: Der Titel von Ritters Band bedeutet kein Plädoyer für die Wunderkammer. Auch wenn ihm die “Alchemie der Formen” behagt, der der von ihm porträtierte, britische Architekt John Soane in seinem Londoner Künstlerhaus 1792 frönte. Vielmehr will Ritter zeigen, wie dieses Prinzip wieder virulent wird, wenn zum Beispiel heute – nicht nur beim Berliner Humboldtforum – ein “Museum der Weltkulturen” beschworen wird. Oder wenn die modernen Bildwissenschaften den auf die Kunst fixierten Bildbegriff entgrenzen wollen. Sieben der 27 Essays widmet Ritter diesem Thema, und damit ist sein Buch vor allem eines über Aufstieg und Krise des Museums geworden.
Ritters Band mit Texten aus den Jahren 1989 bis 2013 zeigt dabei ein etwas traditionelles Kunstverständnis: Malerei steht im Mittelpunkt, Fotografie oder Konzeptkunst kommen nicht vor. Dennoch überzeugt die Sammlung wegen der überraschenden Bildung, souveränen Quellenkenntnis und der einzigartigen Fähigkeit des Kunsthistorikers und Philosophen zur anschaulichen und zeitdiagnostischen Bildbetrachtung. Die Spanne seines Interesses reicht von Adam Elsheimer, dem Frankfurter Lichtmaler des 17. Jahrhunderts über die “Elendsmalerei” Vincent van Goghs, bis zum Verhüllungskünstler Christo.
Wunderkammer der Interpretationen
In solchen Texten nähert sich Ritter selbst dem Ideal des offenen Blicks, den er an dem französischen Kunsthistoriker Georges Salles schätzt. Nirgends wird sein Blick starr, nie will er Bedeutungen ein für alle mal festschreiben. Spätestens wenn er die Handykultur als das “Massenornament des digitalen Zeitalters” bezeichnet oder die Publikumsreaktion auf Christos Reichstagverhüllung als Wiederkehr des “Stammespalavers” deutet und der Aktion eine “Utopie der Spurlosigkeit” bescheinigt, steht man staunend in Ritters Wunderkammer der Interpretationen.

Henning Ritter: Die Wiederkehr der Wunderkammer. Über Kunst und Künstler
Hanser Berlin, Berlin 2014
256 Seiten, 19,90 Euro

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