Sachbuch

Vision von einer Oper, die wichtig ist

Gerard Mortier (1943-2014)
Gerard Mortier (1943-2014) © dpa / picture alliance / Kote Rodrigo
Von Holger Noltze · 25.04.2014
In seinem Buch untersucht Gerard Mortiers das Verhältnis des Theaters zur heutigen Gesellschaft. Ein schmaler, meinungskräftiger Band, der kurz nach dem Tod des belgischen Intendanten zu dessen künstlerischem Testament wurde.
Die Konfession steht schon auf der ersten Seite, und sie könnte deutlicher nicht sein: Wir brauchen das Theater als moralische Anstalt, wir brauchen es als Warnung und Vision. Und man muss nur einmal umblättern, um auch diesen Satz zu finden: "Jede Kommunikation zwischen Menschen führt notwendigerweise zum Theater." Damit ist, beherzt und unerschrocken, die Frage nach der Legitimation der szenischen Künste beantwortet, und so klar hatte man das lange nicht gelesen, gehört. Man hat es womöglich auch nicht auf einer Theater- oder Opernbühne verwirklicht gesehen.
Eine Autobiografie hat er nicht schreiben wollen, keine wortreiche Schilderung, wie er wann wo den Großen der Welt begegnete (und es waren viele). Keine triumphalistischen Berichte von den Kampfplätzen seines so kämpferischen Lebens, keine breit ausgepinselten Selbstrechtfertigungen: Auf gerade einmal hundertzwanzig Seiten legt Gerard Mortier seine Sicht der Dinge des musikalischen Theaters dar. Und er tut das in jenem unverwechselbaren Klartext, mit dem er zu Lebzeiten unermüdlich aussprach, was ihm wichtig war: Theater machen bedeutete für Mortier, "die Routine des Alltäglichen zu durchbrechen, die Akzeptanz wirtschaftlicher, politischer und militärischer Gewalt als Normalität in Frage zu stellen, die Gemeinschaft zu sensibilisieren für Fragen des menschlichen Daseins, die sich nicht durch Gesetze regeln lassen, und zu bekräftigen, dass die Welt besser sein kann, als sie ist."
Ein Votum für eine Kunst, die immer die Gegenwart meint
Das sind fünf Zeilen, und in fünf Zeilen ein ganzes Programm. Ein Votum für eine Kunst, die immer die Gegenwart meint, auch wo sie zweihundert Jahre alte erzählt, und die Antwort auf die Frage, warum sich eine Gesellschaft das leisten können soll, Theater, und sogar die als bürgerliches Kulinarium gelegentlich so ermattet erscheinende Kunstform Oper. "Dramaturgie einer Leidenschaft" erschien wenige Tage nach Mortiers Tod am 9. März, es ist die aktualisierte deutsche Version seiner bereits auf Französisch und Spanisch veröffentlichten Gedanken, dargelegt mit der präzisen Klarheit eines jesuitisch geschulten Juristen mit sehr feinen Ohren.
Wie wunderbar konnte Mortier schimpfen auf die Routiniers des Betriebs, auf hohlen Starkult und die Auffassung, Oper sei dazu da, schöne Stimmen in irgendwie nette Kulissen zu stellen, oder gleich bloß an die Rampe. Und wie erstaunlich, dass er bei aller Klarsicht und Kritik nicht den Glauben daran verlor, dass Kunst damit zu tun hat, den Menschen so zu zeigen, wie er ist in einer Welt, die nicht so sein müsste, wie sie ist. Zynismus war ihm fremd. Das ist ein Risiko in einem zum Zynismus neigenden System, und Mortier wusste genau, was er riskierte, wenn er das Theatermachen als ein beinahe priesterliches Amt bezeichnete, weil das Theater "eine Religion des Menschlichen" sei.
Wie bitte? Sind wir denn nicht heilfroh, dass die Moderne die schwülen Träume jeder Art von Kunstreligion weggefegt hat? Aber man muss genau lesen: "Religion des Menschlichen", das war für Mortier kein Medium von Offenbarungen und fixierten Wahrheiten, das fand er hinter den Irrungen und Wirrungen in Mozarts "Figaro", in Orfeos Jenseitsfahrt bei Monteverdi, in den Leiden des Menschenkinds Marie in Zimmermanns "Soldaten". Er fand es zuletzt an der steinernen Wand des "Brokeback Mountain", der zugleich Verheißung und Grenze der Liebe zweier schwuler Cowboys ist, in der letzten Uraufführung, die Mortier im Januar in Madrid noch auf den Weg bringen konnte.
Was ihn auszeichnete: Passion für die Sache, die er als Mission begriff
"Dramaturgie einer Leidenschaft" ist ein guter Titel. Er bringt auf den Punkt, was diesen Kunstermöglicher ausmachte: Passion für die Sache, die er als Mission begriff – dass Oper mehr ist als eine Sahnetorte, die sich um sich selbst dreht, dass sie vielmehr Mitteilungen über den Menschen macht, die für die Menschen und die Gesellschaft von großer Wichtigkeit sind. Dies verbunden mit dem künstlerischen Kalkül des Dramaturgen, der weiß, wie man eine Botschaft platziert. In sieben knappen Kapiteln entwickelt er seine Vision von einer Oper, die wichtig ist.
So geht es in gleich sieben "Dramaturgien" um die Intendanz eben nicht bloß als Management und Mangelverwaltung, sondern als Kunst: die Kunst, mit einem Spielplan nicht Allerlei anzubieten, sondern eine Aussage zu machen, Zusammenhänge aufzuspüren. Die Bedeutung des Theaterraums und der Kommunikation, die Dramaturgie einer Werktreue, die vor allem dem Gedanken treu ist, dass jede Aufführung eine Mitteilung an die Gegenwart sein muss, kein Museumsstück. Auch die Kunst, neue Stücke, neue Stoffe zu entdecken. Für Mortier "steht fest, dass der Mangel an neuen Werken ebenso wie ihre Ablehnung durch einen großen Teil des Publikums von angeblichen Opernfreunden und die Wiederholung der immer gleichen Stücke in unterschiedlichen Inszenierungen den Verlust des Interesses bei einem neuen Publikum zur Folge haben werden und zum Niedergang der Kunstform Oper führen müssen." "Mozart wird darunter nicht zu leiden haben", schreibt er, "aber es ist gut möglich, dass es 'Fidelio' schwerer haben wird, sich im Repertoire zu behaupten, als 'Madama Butterfly'."
So fällt nebenbei noch einmal ein Licht auf diesen besonderen Mortier-Kanon, zu dem der Puccini, der "Butterfly", verzuckerte Tragödien wie Gounods "Roméo et Juliette", allerhand Beliebtes aus Barock und Belcanto eben nicht zählten, dafür Mozart und Monteverdi und Moderne; wie er überhaupt findet, dass das 20. Jahrhundert der Oper mehr Meisterwerke beschert hat (nämlich 50) als das im Repertoire dominierende 19. Jahrhundert. Da zählt er höchstens 40. Darunter bestimmt viel Verdi, dem eine eigene Nachschrift gewidmet ist.
Über solche Rechnungen werden sich einige derer aufregen, die Mortier gern die "sogenannten Opernfreunde" nennt. Es dürfte ihnen beim Lesen dieses schmalen, aber ziemlich gewichtigen Buches dämmern: Auch ihre Aufregung war Teil der listigen Mortierschen Dramaturgien. Und überhaupt könnte uns dämmern, wie sehr er fehlt, jetzt schon, und dass sein Buch ihn nicht ersetzen kann, auch wenn es jetzt so etwas wie ein Vermächtnis geworden ist, in einem Betrieb, der einfach weiter macht.

Gerard Mortier: Dramaturgie einer Leidenschaft. Für ein Theater als Religion des Menschlichen.

Bärenreiter/Metzler, Kassel 2014

126 Seiten, 24,95 Euro

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