Sachbuch

Letztlich eine Erfolgsgeschichte

Von Klaus Pokatzky · 19.03.2014
Die Idee eines Vereinten Europa hat sich an der Realpolitik stetig gerieben und vielfach gewandelt. Wilfried Loth protokolliert akkurat und detailreich die Entstehungsgeschichte der EU. Ein Erzähler ist er aber nicht.
Was ist unser Europa nach dem Krieg? Es ist EWG und EFTA, EGKS und EZU, WEU, GASP, ESVP, EWR, EPZ und EU. Europa ist aber auch: estnische Braunbären und slowenische Honigbienen, französischer Johannisbeerlikör, griechische Tomaten, spanisches Olivenöl – und immer wieder neuseeländische Butter für Britannien.
Akribisch präsentiert uns Wilfried Loth, Historiker an der Universität Duisburg-Essen, den mühevollen Weg vom Haager Kongress im Mai 1948 – mit 700 europäisch-enthusiastischen Führungspersönlichkeiten aus Politik, Wirtschaft, Kultur aus 28 Nationen und mit 40.000 Menschen bei einer öffentlichen Kundgebung – bis hin zur Eurokrise mit randalierenden Demonstranten und Zehntausenden von EU-Beamten. Der quälende Prozess von einer Wirtschaftsgemeinschaft der Sechs zu einer politischen Union der 28 ist – zumindest auf Deutsch – wohl kaum so detailliert und sachkundig beschrieben worden wie von diesem Experten der Geschichte der europäischen Integration.
"Letztlich eine Erfolgsgeschichte", bilanziert Wilfried Loth diesen Prozess, der immer mehr ein Prozess der Politiker und der Bürokraten und immer weniger der Menschenmassen wurde. Der aber auch ein Prozess der Demokratisierung war; nach innen wie nach außen. Das Europäische Parlament wurde langsam zu einem (fast) echten Parlament. Den einstigen West-Diktaturen Portugal, Spanien und Griechenland leistete das gemeinsame Europa ebenso unschätzbare Hilfe beim schwierigen Demokratisierungsweg wie den früheren Diktaturen des Ostens.
Furcht vor Deutschland
Und neben dem Interesse vor allem Frankreichs, sich nicht allzu sehr auf Schutz und Schirm der USA zu verlassen, sondern lieber selbst ein mächtiges Europa aufzubauen, gab es immer ein mindestens genauso wichtiges Motiv all der kleinen und der großen europäischen Nationen, sich zusammenzuschließen – auch, wenn dieses zu Lasten der eigenen Souveränität ging: die Furcht vor Deutschland. Das war schon bald nach dem Krieg so und flackerte nach der Wiedervereinigung sofort wieder auf: dass Deutschland wieder einen Sonderweg gehen könne – und daher besser einzuhegen sei.
Das ist gelungen und die deutschen Politiker haben ihr Teil dazu beigetragen – so wie Bundesaußenminister Hans-Dietrich Genscher, der im Juni 1985 bei einer Ratstagung in Mailand ein neues Arbeitspapier sogar morgens beim Rasieren diktierte. Eine solche Anekdote ist leider die absolute Ausnahme in diesem schwer verdaulichen Wälzer.
Welt der Sprachungetüme
Wilfried Loth ist leider kein Erzähler, sondern eher ein akkurater Protokollant. Er liefert ein ungemein detailreiches, aber trockenes Protokoll – nicht mehr, aber auch nicht weniger. Seine Welt ist die der Sprachungetüme EWG, EFTA, EGKS, EZU, WEU, GASP, ESVP, EWR, EPZ, EU. Seine Welt sind nicht die estnischen Braunbären und slowenischen Honigbienen, der französische Johannisbeerlikör, die griechischen Tomaten, das spanische Olivenöl und die neuseeländische Butter. Europa ist aber beides.
Und: Wilfried Loth erklärt kaum Zusammenhänge, wie das von einem Historiker zu erwarten wäre. Er zählt all die Konferenzen, Tagungen und Sitzungen fast wie im Terminkalender auf; zitiert aus Vorlagen, Verträgen, Gesetzen und gelegentlich auch Memoiren – aber so chronologisch, so dass der Leser leicht den Überblick verliert und immer mal wieder zurückblättern muss, um in den Gesamtzusammenhang zurückzufinden. Ein Glossar zu den verschiedenen Organisationen und Institutionen Europas hätte hier zumindest ein wenig geholfen. Schließlich: Er beschreibt – von wenigen Ausnahmen abgesehen – nicht die handelnden Personen, ihren persönlichen und politischen Hintergrund, was sie antreibt. Leider bleibt er den Aktenschränken verhaftet und lässt die Leser nicht auf die europäische Bühne blicken, mit ihren illustren Darstellern. Das aber hätte zu einer wirklichen Geschichte gehört.

Wilfried Loth: Europas Einigung. Eine unvollendete Geschichte
Campus, Frankfurt / New York , 2014
512 Seiten, 39,90 EUR