Ernesto Grassi: Kunst und Mythos
Herausgegeben von Richard Blank und Emilio Hidalgo-Serna
Alexander-Verlag, Berlin 2014,
234 Seiten, 24, 90 Euro
Klassiker der Ästhetik
Was ist der Ursprung der Kunst? Welche Funktion hat sie? Diese Fragen und auch den Wandel der Kunst im Laufe der Zeit untersuchte der italienische Philosoph Ernesto Grassi. Seine vor mehr als einem halben Jahrhundert erschienene Schrift "Kunst und Mythos" ist nun neu aufgelegt worden.
Ernesto Grassi: Wer heute die gängigen Nachschlagewerke zu Kunst und Ästhetik nach diesem Mann durchforstet, erlebt eine Fehlanzeige. Kaum irgendwo taucht der Name des italienischen Philosophen auf. Was einigermaßen verwunderlich ist. Denn als der Hamburger Rowohlt-Verlag 1957 seine berühmte Reihe "Rowohlts Enzyklopädie" auflegte, machte ein Werk des 1902 in Mailand Geborenen, 1991 Gestorbenen, paradigmatisch den Auftakt: "Kunst und Mythos".
Grassis heute etwas pathetisch klingender Titel deutet nur scheinbar auf eine vormoderne Begründung der Kunst. Auch wenn er zu Beginn bekennt, das "Verständnis für das ursprüngliche, aber meist heillos verschüttete Ur-Seiende zurückzuerobern". Doch eine klassische Ontologie der Kunst bietet der Band gerade nicht.
Eher ließe sich "Kunst und Mythos" als eine Art close-reading der antiken Philosophie in Bezug auf die Kunst bezeichnen: Im Mittelpunkt stehen die Poetik des Aristoteles und die Platonischen Dialoge, mit deren Hilfe er Begriffe wie Poiesis, Techne und Mechane klärt, an das antike Verständnis vom Künstler als "Besessener" und die Idee der "Ur-Spannung" als Grundlage von Harmonie erinnert.
Diese Re-Lektüre verdichtet Grassi dann zu erstaunlich modernen Definitionen. "Empeiria" (das griechische Wort für Empirie) deutet er als den Teil der Natur, der "durch unsere Feststellungen geordnet" ist. "Legein" (das griechische Wort für Lesen) deutet er als "Sammeln, Ordnen, Auswählen". Das klingt kein bisschen nach verstaubter Antike, sondern nach zeitgenössischer Rezeptionsästhetik und Konstruktivismus.
"Das Problem der Kunst interessiert uns nicht allein an sich"
Diese Tätigkeiten bilden gewissermaßen die sensorische Basis für das, was später in Kunst übergeht:
"Empirie ist der erste, noch stammelnde Versuch eines Überschreitens der Erscheinungen."
Den Ursprung der Kunst verlegt Grassi in das 5. Jahrhundert vor Christus. Mit dem Aufkommen des Dithyrambus, des stürmisch bewegten, antiken Chorgesangs, habe sich die starre Maskensprache des griechischen Theaters freieren Interpretationen geöffnet.
Die bislang in einer sakralen Ordnung streng gebundenen Töne und Rhythmen konnten sich dem Willen desjenigen anpassen, der sie vortrug. Dieser Einbruch des Subjektiven befreite die Kunst, so Grassi, vom heiligen Ernst des Mythos und brachte "das Mögliche zur Darstellung". Diese Wende vom Sakralen zum Profanen bestimmt die Kunst bis heute.
Grassis konsequent humanistischer Ansatz zeigt sich, wenn er sein Erkenntnisinteresse formuliert:
"Das Problem der Kunst interessiert uns nicht allein an sich, sondern weil es unvermeidlich zu Erörterungen führt, die das Wesen des Menschen betreffen".
Dieser Satz käme der zeitgenössischen Kunst so nicht mehr über die Lippen, so wie sie Kunst als soziale Reflexion und Kritik praktiziert. Auch mit Grassis "Unmittelbarkeit der Erfahrung" dürfte sie ihre Schwierigkeiten haben.
Einen aktuellen Grund zur Wiederauflage von Grassis Klassiker gibt es nicht. Doch zu Zeiten, in denen sich die Kunst als die bessere Politik, Soziologie oder gar empirische Naturwissenschaft begreift, schadet es nicht, an Grassis, den antiken Vor-Denkern abgerungene Definitionen zu erinnern, dass Kunst "Welt-Entwurf menschlicher Möglichkeiten" ist, ein Versuch zur "Bezwingung des Chaos". Und dass sie "dem Gestaltlosen eine Form aufprägen" will. Sie sind so aktuell wie am Ende der 1950er-Jahre.