Sachbuch

Im Epizentrum des Kummers

Holocaust-Gedenken am Raoul Wallenberg Square in Stockholm, Aufnahme vom 27. Januar 2013
Holocaust-Gedenken am Raoul Wallenberg Square in Stockholm, Aufnahme vom 27. Januar 2013 © picture alliance / dpa
Von Carsten Hueck · 14.05.2014
Otto Ullmann ist 13, als ihn seine Eltern 1939 in einen Zug setzen, der ihn mit etwa hundert anderen Kindern an die Ostsee und von dort nach Schweden bringt, wo er den Krieg überlebt. Per Post hält er Kontakt mit den Eltern – der letzte Brief kommt aus Theresienstadt.
Unter welchen Umständen überlebt ein junger Jude aus Wien in Schweden den Holocaust? In ihrem Buch erzählt die schwedische Journalistin und Autorin Elisabeth Asbrink die Geschichte von Otto Ullmann und weist damit unaufdringlich auch auf die Frage jüdischer Identität hin.
Otto Ullmann ist 13, als ihn seine Eltern 1939 in einen Zug setzen, der ihn mit etwa hundert anderen Kindern an die Ostsee bringt. Von dort gelangt er mit einer Fähre nach Schweden. Organisiert hat diese Reise - man könnte auch sagen Flucht oder Rettung – die in Wien ansässige "Schwedische Israelmission", eine christliche Vereinigung, die vor allem getaufte Juden wieder auf den rechten Pfad des Glaubens zurückbringen möchte.
Mit den Eltern der Kinder und den schwedischen Behörden ist vereinbart, dass deren Aufenthalt im Land vorübergehend sein wird. Denn wie alle anderen europäischen Länder, unterbindet auch das als liberal geltende skandinavische Land in dieser Zeit die Einwanderung verfolgter Juden aus dem Deutschen Reich.
Nach Stationen im Kinderheim arbeitet Otto, das bürgerliche Großstadtkind, gewöhnt an Opern,-Kino- und Konzertbesuche, als billige Arbeitskraft in der Forstwirtschaft und auf verschiedenen Bauernhöfen. Während in Wien seine Eltern immer stärker drangsaliert werden, geht es ihm, trotz Heimweh, vergleichsweise gut. Er arbeitet, bekommt genug zu essen, findet Freunde.
Das beste schwedische Buch des vergangenen Jahres
Über fünf Jahre hinweg hält Otto per Post mit seinen Eltern Kontakt. Was mit ihnen geschieht und wie es ihnen geht, erklärt sich nur aus vereinzelten Andeutungen. Sorge um den Sohn und seine Entwicklung stehen im Vordergrund. Wie auf dem Weg zur Vernichtung die familiäre Etikette aufrechterhalten wird, ist beklemmend. Der Leser ahnt, dass Otto hilflos in ein "Epizentrum des Kummers" geblickt haben muss.
Fünfhundert Briefe gelangen nach Schweden, der letzte im August 1944. Absender ist Ottos Mutter, ihre Adresse: Theresienstadt. Wenige Wochen später wird sie nach Auschwitz deportiert. Während dieser Zeit hat sich Otto mit Ingvar Kamprad angefreundet. Er stammt aus einer sudetendeutschen Familie und ist bei der Polizei als Aktivist der schwedischen Nationalsozialisten bekannt. Später wird er IKEA gründen, und Otto wird ihm dabei helfen.
Elisabeth Asbrinks Buch wurde im vergangenen Jahr mit dem Preis für das beste schwedische Sachbuch ausgezeichnet - absolut verdient. Denn die Autorin beschreibt eine Geschichte des Überlebens während des Holocaust, die man so noch nie gelesen hat. Das verdankt sich der literarischen Gestaltung, der Verknüpfung gut recherchierter Fakten mit abwechslungsreichen, eigenen Überlegungen, sarkastischen Kommentaren und subtil formulierten Vermutungen. Die Atmosphäre der Zeit, die sich verändernden Lebensumstände der Protagonisten werden plastisch, und dabei fördert Asbrink immer wieder Überraschungen, Absurdes und Ungeheuerliches zutage. Formal und inhaltlich ein Buch, das die Grenzen seines Genres eindrucksvoll erweitert.

Elisabeth Asbrink: Und im Wienerwald stehen noch immer die Bäume - Ein jüdisches Schicksal in Schweden
Aus dem Schwedischen von Gisela Kosubek
Arche Verlag, Zürich-Hamburg 2014
409 Seiten, 24,95 Euro

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