Sachbuch

Gegengift für Denkblockaden

New York City im Regen
Urbane "Nervosität" - hier New York City im Regen © Sonja Beeker
Von Frank Kaspar · 10.06.2014
Wer sagt mir, wann es Zeit zu Handeln ist? Was bewahrt mich vor Fehltritten? Wie entscheide ich frei? Diesen Fragen und ihren Vorgeschichten in Pop, Poesie und Philosophie widmet sich Holger Schulze in seinem Buch.
Die Worte strömen nur so aus ihr heraus, vor lauter Not und Überforderung. Wohin sich nur wenden im Gedränge auf dem Berliner Alexanderplatz? Vor wem auf der Hut, um wen besorgt sein? Wie das eigene Ziel im Blick behalten, während Reize und Warnsignale von allen Seiten auf Augen und Ohren einprasseln? Die Bloggerin Meike Lobo sieht sich der eigenen Wahrnehmungsfähigkeit ausgeliefert: "Nicht alles zu sehen, nicht alles zu hören, Dinge ausblenden zu können! Ich kann das nicht. Ich kann nicht anders, als immer alert zu sein, immer wachsam".
Der Geist der frühen Moderne
Holger Schulze hat keine gemütlich konsumierbare Kulturgeschichte des "Gespürs" geschrieben. Er will, dass der Leser auf der Stuhlkante sitzt und ins Geschehen mit hinein gezogen wird. Lobos urbane "Nervosität", mit der Schulze in sein Thema einführt, kann jeder Großstädter nachfühlen. Darin hallt der Geist der frühen Moderne wieder: Alfred Döblin gestaltet 1929 in "Berlin Alexanderplatz" die Reizüberflutung der Metropole, Einar Schleef, Rainald Goetz und andere Autoren, die Schulze aufruft, schreiben diese Linie fort und bekennen sich selbst zu einem Dasein als Stadtneurotiker.
Der 2011 begründete "Kleine Stimmungs-Atlas in Einzelbänden", herausgegeben von Jan-Frederik Bandel und Nora Sdun, soll Schlüsselbegriffe der ästhetischen Erfahrung für die Gegenwart neu deuten. Nach Essays über "Angst" und "Albernheit", "Modernität" und "Verkrampfung" hat der Literatur- und Medienwissenschaftler Holger Schulze mit dem Thema "Gespür" einen Gegenstand gewählt, der wie aus der Zeit gefallen wirkt.
Als Tugend eines taktvollen Miteinanders scheint das "Gespür" aus der Mode gekommen zu sein. Als taktische Klugheit verstanden, weckt es die Begehrlichkeit von Menschen, die ihr Persönlichkeits-Profil mit "emotionaler Intelligenz" nachrüsten wollen, um effizienter die eigenen Interessen durchzusetzen. Holger Schulzes Hauptinteresse gilt jedoch einem anderen Verständnis von "Gespür". Er begreift den vorsichtig voran tastenden "Spürsinn" als eine besondere Urteilsfähigkeit, die dem rationalen Denken vorausgeht: als Gegengift zur Überwindung von Erfahrungs- oder Denk-Blockaden.
Philosophische Reiseapotheke
Bei dem französischen Denker Michel Serres findet Schulze ein treffendes Bild für die Wiederentdeckung des "Gespürs" und seine Verteidigung gegen eine Weltsicht, die nur Vernunft und Logik gelten lässt: Wir müssten lernen, unsere Zunge wieder zum Schmecken zu gebrauchen, schreibt Serres. Dem "Goldmund der Sprache und der Logik" hält er das Prinzip einer sinnlichen Erkenntnis entgegen. "Die zweite, die schmeckende Zunge fordert ihre Zeit und ihre Ruhe", erklärt Holger Schulze: "Bedachtsames Schmecken. Zeit, bis sich ein Gespür artikuliert."
Schulzes Essay über das "Gespür" ist ein Buch, das selbst in vielen Zungen redet, sich hier akademisch, beinahe hermetisch gibt, im nächsten Moment aber sich verplaudert und gelegentlich allzu salopp im Ton vergreift. Insgesamt aber enthält diese kleine philosophische Reiseapotheke jede Menge Ingredienzen, um intellektuelle Selbstheilungskräfte zu aktivieren und für frisches Denken zu sorgen.

Holger Schulze: Gespür
Textem Verlag, Hamburg 2014
102 Seiten, 12 Euro