Sachbuch

Das ganz große Theater

Besprochen von Hans-Jörg Modlmayr · 04.12.2013
Von den Herumlungerern bis zu den treuen Höflingen: Neil MacGregor beschreibt in diesem Buch die elisabethanische Gesellschaft - und damit die Welt von William Shakespeare.
Neil MacGregor, der 1946 in Glasgow geboren wurde, studierte in Oxford Französisch und Deutsch, in Paris Philosophie, in Edinburg Rechtswissenschaften (LLM) und dann unter Anthony Blunt, dem später als Sowjetspion enttarnten Direktor des Courtauld Institute in London, Kunstgeschichte. Von 1975 bis 1981 lehrte er an der Universität Reading Kunstgeschichte und Architektur.Anschließend war er Herausgeber des Burlington Magazine. 1987 erfolgte seine Ernennung zum Direktor der Londoner National Galerie. Seine BBC Fernsehserien über Kunst machten ihn in Großbritannien zum berühmtesten und beliebtesten Vermittler von Kunst.
Seit 2002 ist er Direktor des British Museum. Als ihn 2008 das Metropolitan Museum for Art in New York als Direktor abwerben wollte, lehnte er ab, weil das New Yorker Museum von seinen Besuchern Eintritt verlangt. MacGregor ist ein glühender Verfechter der Idee, dass öffentliche Museen frei zugänglich sind, da die in ihnen aufbewahrten Kulturschätze der Allgemeinheit gehören. Zusammen mit dem BBC 4 Hörfunkprogramm entwickelte Neil MacGregor seine in 100 fünfzehn Minuten Episoden aufgeteilte "Geschichte der Welt in 100 Objekten". In jeder dieser Episoden bringt er jeweils ein – für die Geschichte der Menschheit beispielhaftes – Objekt des British Museum zum Sprechen.
Anschaulicher, eindrucksvoller und überzeugender als Legionen von Literaturprofessoren der Shakespeare-Zeit gelingt es Neil MacGregor, dem Direktor des British Museum, uns gleichsam als Zeitzeugen in Shakespeares ruhelose Zeit zu verfrachten. In den 20 Kapiteln seines ästhetisch bestechend aufgemachten Buches unternimmt Neil MacGregor Reisen in eine vergangene Welt, die durch das Charisma von zeitgenössischen Objekten und Abbildungen zum Leben erweckt wird. Anhand der von ihm ausgewählten Quellen wie etwa der goldenen Gedenkmedaille, die anlässlich der Weltumseglung von Sir Francis Drake geprägt wurde oder der eleganten Speisegabel, die Archäologen aus dem Abfall eines der Londoner Theater geborgen haben, führt uns MacGregor in die Welt und die Vorstellungen, die Lebensgewohnheiten, Hoffnungen und Ängste derjenigen ein, die Shakespeare Stücke besucht haben.
Als Shakespeare heranwuchs, entwickelte sich in London das kommerzielle Theater, das vergleichbar mit dem neuen Medium des Fernsehens in den 1960er Jahren als Massenunterhaltung immens populär war. Dieses Medium, das Shakespeare wie kein anderer genial zu bedienen verstand, war der Spiegel der elisabethanischen Gesellschaft. Auf der Bühne agierten alle ihre Vertreter, vom Totengräber und Herumlungerer, vom Witzbold und schleimigen bzw. treuen Höfling bis hinauf in die schillernden Reihen der gesalbten und gekrönten Stellvertreter Gottes auf Erden. Zwar weiß man, dass das gesamte Spektrum der quirligen Londoner Bevölkerung theatersüchtig war, aber darüber, wie sich dieses Publikum verhalten hat, was es gefühlt und gedacht hat, was es während der Theateraufführungen gegessen und getrunken hat, schweigen sich die zeitgenössischen Quellen aus.
Die moderne Archäologie hat aus dem Boden, auf dem die elisabethanischen Theater standen, eine Fülle von Funden gehoben, die genau Aufschluss geben über die Unmengen an Nüssen, Früchten – getrocknet oder frisch – , Trauben, Hollunderbeeren, Pflaumen, Birnen, Kirschen und Meeresfrüchten aller Art, die das Theaterpublikum verzehrte, das nachweislich auch Bier und Ale trank. Indirekt gibt die ausgegrabene langgestreckte elegante 'Konfektgabel' mit ihren zwei spitzen Zinken und dem Messingkopf mit dem eingravierten Monogramm “AN“ Auskunft darüber, was ihre Besitzerin oder ihr Besitzer im Theater mit Hilfe dieses damals exotisch-anrüchigen Werkzeugs genüsslich verzehrt hat: klebrige Süßigkeiten aus einer Schachtel.
Neil MacGregor spannt seinen Bogen vom Weltumsegler Sir Francis Drake bis hin zur globalen Rezeption von Shakespeares Werk, die 1623 in Frankfurt am Main begann, als seine Stücke in der First Folio Ausgabe erstmals auf den Markt kamen. Zwischen dem Ausgreifen in die Welt des höchst profitablen globalen Handels und der universalen Akzeptanz von Shakespeares Werk zeigt Neil MacGregor im Detail, wie elementar die elisabethanische Gesellschaft verunsichert war, weil sich ihre Jahrhunderte alten Fundamente revolutionär verändert hatten. Im Spannungsfeld ihrer Gier nach Macht und Vergnügen und den Ängsten vor Verschwörungen, Morddrohungen gegen die Königin, den alle bedrohenden Pestausbrüchen war diese Gesellschaft traumatisiert.
Die ständige Angst vor Terrorakten beutelte die Menschen der ruhelosen Zeit Shakespeares, eine Zeit, die auch von der Vision von Frieden und sozialer Stabilität geprägt war. Wer sich mit Neil MacGregor auf seine faszinierenden Zeitreisen begibt, wird nicht nur die Menschen Shakespeares besser verstehen, und für sie Empathie empfinden, er wird auch unsere Gegenwart mit neuen Augen sehen.

Neil MacGregor: Shakespeares ruhelose Welt

Aus dem Englischen von Klaus Binder

C.H.Beck, München 2013

352 Seiten mit 122 Abbildungen, 29,90 Euro

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