Sacharow-Preisträger Oleg Senzow

Seit über drei Jahren in russischer Haft

Der ukrainische Filmemacher Oleg Senzow während des Gerichtsverfahrens gegen ihn in Russland.
Der ukrainische Filmemacher Oleg Senzow während des Gerichtsverfahrens gegen ihn in Russland. © AP/dpa/Uncredited
Von Gesine Dornblüth · 12.12.2018
Der ukrainische Filmregisseur Senzow wird in Straßburg mit dem Sacharow-Preis für Menschenrechte ausgezeichnet. Entgegen nehmen kann er ihn nicht. Denn Senzow sitzt in Sibirien im Gefängnis.
August 2015. Ein Gericht in Rostow am Don in Südrussland. Der Saal ist so klein, dass nur ein Dutzend Besucher darin Platz haben. Der Prozess gegen Oleg Senzow und seinen Mitangeklagten Alexander Koltschenko geht zu Ende, und die Angeklagten erhalten, den Regularien entsprechend, noch einmal das Wort.
Senzow verteidigt sich nicht, denn das hieße, das Gericht als solches zu akzeptieren, und das tut er nicht. Senzow nutzt den raren Moment der Öffentlichkeit für ein politisches Statement.
"'Die schlimmste Sünde auf der Erde ist die Feigheit.' Das hat der große russische Schriftsteller Bulgakow in dem Buch 'Der Meister und Margarita' geschrieben, und ich bin seiner Meinung. Die Feigheit ist die größte, die schlimmste Sünde auf Erden."
Wie so oft im Gerichtssaal wirkt Senzow ruhig, ein bisschen spöttisch, ein bisschen trotzig. Wie stets trägt er ein weißes T-Shirt mit einem traditionellen ukrainischen Blumenmuster und der Aufschrift "Ruhm der Ukraine".
"Auch wir hatten eine verbrecherische Regierung, aber wir sind gegen sie auf die Straße gegangen. Man wollte uns nicht hören, wir haben gegen Mülltonnen geschlagen. Die Machthaber wollten uns nicht sehen, wir haben Autoreifen angezündet. Am Ende haben wir gesiegt. Das gleiche wird früher oder später auch bei Ihnen passieren. Ich weiß nicht, in welcher Form, und ich möchte nicht, dass dabei jemand zu schaden kommt. Ich möchte nur, dass Sie nicht länger von Verbrechern regiert werden."
Der Richter unterbricht, er solle zur Sache sprechen.
"Ich komme schon zum Ende, Euer Ehren. Das einzige, was ich dem informierten Teil der russischen Bevölkerung wünsche, ist, zu lernen, keine Angst zu haben!"

Am Nordpolarkreis inhaftiert

Das Urteil, 20 Jahre Haft wegen angeblichen Terrorismus, quittiert Senzow mit einem Victory-Zeichen.
Mehr als drei Jahre sitzt er mittlerweile in Haft. Seit einem Jahr in Labytnangi, das liegt mehrere tausend Kilometer von seiner Heimat, der Krim, entfernt, am Nordpolarkreis. Der Winter dauert dort neun Monate.
Eigentlich ist Senzow ein eher zufälliges Opfer der russischen Justizwillkür. Er war nie besonders politisch und bis zu seiner Verhaftung 2014 auch nicht besonders bekannt. Sein erster und einziger Spielfilm, "Gamer", gedreht mit 20.000 US-Dollar, handelt von einem Computerspiel-süchtigen Jugendlichen.
"Gamer" gewann mehrere Preise. Für seinen nächsten Film über Kinder der 90er Jahre hatte Senzow schon ein Budget von einer Million US-Dollar. Er machte sich an die Arbeit, doch dann begannen am Maidan in Kiew Demonstrationen gegen Korruption und für Demokratie. Wenig später besetzten russische Soldaten die Krim.
"Ich halte mich für einen Maidan-Aktivisten, und das ist das Wichtigste, was ich in meinem Leben gemacht habe. Ich habe auf der Krim verschollene und verschleppte proukrainische Aktivisten gesucht. Einige konnten wir retten, andere nicht – wahrscheinlich sind sie nicht mehr am Leben. Ich habe versucht, allen zu helfen, die bereit waren, für die Ukraine einzutreten."

145 Tage im Hungerstreik

Längst bewegt der Fall Senzow Filmschaffende weltweit. Und in diesem Sommer erhoben endlich auch in Russland namhafte Filmleute ihre Stimme, bei der Verleihung eines Filmpreises. Das Staatsfernsehen übertrug live, es war einer der seltenen Momente, in denen Solidarität mit Senzow in russische Fernsehstuben drang. Der Häftling reagierte in einem Brief.
"Es zeigt sich, dass es nicht so schwer ist, einfach keine Angst zu haben, seine Meinung zu sagen. Vielen Dank dafür. Viele Grüße allen, die mit uns sind!"
Zu diesem Zeitpunkt befand sich Senzow im Hungerstreik. Mitte Mai hatte er ihn begonnen – nicht etwa, um seine eigene Freilassung zu bewirken; nein, er forderte die Freilassung von 64 weiteren ukrainischen Gefangenen aus russischen Haftanstalten. Bis Oktober hielt er durch, ein Zeugnis enormer Willenskraft. Als die Gefängnisverwaltung mit Zwangsernährung drohte, gab er auf. Und schrieb:
"145 Tage Kampf, minus 20 Kilo Gewicht, plus ein aufgeriebener Organismus, aber das Ziel ist nicht erreicht. Ich bin allen dankbar, die mich unterstützt haben, und bitte diejenigen um Entschuldigung, die ich im Stich gelassen habe. Ruhm der Ukraine!"
Über den derzeitigen Zustand des 42-Jährigen ist wenig bekannt. Die Gefängnisleitung verbreitet, er schreibe. Ein Päckchen mit warmen Sachen sei ihm seit drei Wochen nicht ausgehändigt worden, sagt eine Menschenrechtlerin. Den Sacharow-Preis des Europäischen Parlaments wird Senzows Cousine für ihn in Empfang nehmen.
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