Sabine Timoteo über "Cronofobia"

"Mein Gehirn muss Kurven nehmen"

10:26 Minuten
Im Still aus "Cronofobia" steht Sabine Timoteo mit einem Hammer auf der Straße.
"Cronofobia" mit Sabine Timoteo in der Hauptrolle wurde im Januar 2019 als Erstlingswerk direkt beim Festival Max Ophüls Preis ausgezeichnet. © Filmperlen
Moderation: Susanne Burg · 15.02.2020
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In ihrem neuen Film "Cronofobia" spricht Schauspielerin Sabine Timoteo drei Sprachen, im echten Leben sogar fünf. Im Gespräch erzählt sie, wie es sich anfühlt, in allen Sprachen arbeiten zu können, aber in keiner davon richtig zu Hause zu sein.
Susanne Burg: "Cronofobia" – das ist ein Debütfilm aus der Schweiz, der auf verschiedenen Festivals lief, unter anderem beim Max-Ophüls-Preis, wo er im letzten Jahr gleich zwei Preise bekam, nämlich den Preis für die beste Regie und für das beste Drehbuch. Jetzt kommt er bei uns ins Kino. In dem poetischen Film von Francesco Rizzi geht es um einen mysteriösen, einsamen Mann, Privatdetektiv von Beruf, und eine Frau, die vor kurzem ihren Mann verloren hat und nun alleine in einem großen Haus wohnt. Der Privatdetektiv beobachtet die Frau aus seinem Lieferwagen heraus, und lange ist unklar, warum er das eigentlich tut. Irgendwann begegnen sich die beiden, und was da genau passiert, darüber unter anderem spreche ich mit der Hauptdarstellerin von "Cronofobia", mit Sabine Timoteo, die in einem Studio des Schweizer Rundfunks in Bern ist.
Ihre Figur Anna und der geheimnisvolle, eigenbrötlerische Mann Suter, sagte ich ja, begegnen sich, genauer gesagt: Anna steigt eines Tages in seinen Lieferwagen auf der Flucht vor den wohlmeinenden Eltern, die plötzlich vor ihrer Tür stehen. Warum tut sie das, warum steigt sie ein? Dieses Beobachten aus dem Lieferwagen heraus hätte ja vielen Menschen Angst eingeflößt.
Timoteo: Ja, richtig, aber offenbar entscheidet sie sich dafür, ins Fremde zu gehen, anstatt das Altbekannte zu konfrontieren. Also so sehe ich das, deshalb entscheidet sie sich gegen die Eltern und gegen das Trauma, gegen die Konfrontation mit dem Trauma.
Burg: Und sie scheint sich dann in dem Lieferwagen ja auch relativ wohlzufühlen, weil sie auch Schlafstörungen hat, wie sich herausstellt, und dann ganz prima da einschlafen kann. Die beiden begegnen sich dann immer wieder, und dieser Suter ist ein bisschen so ein Mann ohne Eigenschaften. Er schlüpft in verschiedene Rollen. In seinem Beruf überprüft er bei Angestellten, ob sie ihren Rollenvorgaben im Beruf gerecht werden, etwa im Kaufhaus oder in der Bank. Für Anna schlüpft er dann irgendwann in die Rolle ihres verstorbenen Ehemannes.
Timoteo: Nicht zu viel verraten!
Burg: Okay.

Eine Beziehung als Geschäft

Timoteo: Das ist natürlich schon so. Sie zwingt ihn ja auch allmählich dahin. Das ist ja auch das, was sie dann fasziniert an dieser Beziehung, genau, weil sie ja eigentlich gar keine Beziehung möchte, und sie projiziert. Der Suter ist natürlich gefundenes Fressen für sie, weil er es zulässt, dass sie was auch immer in ihn reinprojiziert.
Burg: Das wäre jetzt meine Frage gewesen: Wie würden Sie diese Beziehung beschreiben, die sich da so zart entwickelt zwischen den beiden?
Timoteo: Es ist eher ein Geschäft. Ich sehe das als ein Abkommen zwischen zwei Menschen, mehr als eine Beziehung. Dann müsste man das Wort Beziehung noch mal definieren vielleicht. Nein, aber ich glaube, es ist ein Abkommen. Er gibt ihr was, was sie braucht, und sie gibt ihm auch was, was er braucht, aber ich glaube, die wirkliche Begegnung könnte dann erst am Ende des Filmes stattfinden.
Porträt von Sabine Timoteo auf dem Roten Teppich des Filmfestivals in Rom im Oktober 2016.
Lebt und arbeitet mehrsprachig: die Schweizerin Sabine Timoteo.© Getty Images / Corbis / Camilla Morandi
Burg: Also Emotionen spielen da keine Rolle?
Timoteo: Doch, aber das sind eher Projektionen. Es sind ja Emotionen, die durch oder dank Projektionen entstehen. Es geht nicht um ihn als Mensch.
Burg: Der Film heißt ja "Cronofobia", im Deutschen "Chronophobie", das ist die Angst davor, dass die Zeit zu schnell vergeht, also dass die Ereignisse zu schnell vorüberziehen. Inwieweit spielt es auch eine Rolle für Ihre Figur Anna, die in gewisser Weise auch ein bisschen aus der Zeit gefallen wirkt oder zumindest nicht im hier und jetzt?
Timoteo: Bei ihr ist es eher so, dass sie nicht loslassen kann. Also sie ist wie gefangen in ihrem Haus, aber auch im Trauma, also in diesem Zeitraum des Traumas, und kommt da nicht mehr raus. Sie gefriert. Ich habe so das Gefühl, dass mit dem Suter sie allmählich auftaut, aber das ist natürlich schmerzhaft, und da sehe ich ihre Mechanismen, sich dagegen zu wehren und kehrt lieber wieder ins Tiefgefrierfach, anstatt sich auftauen zu lassen.

Die Multilingualität ist Kern der Schweiz

Burg: Als Schauspielerin in dieses Tiefgefrierfach zu gehen stelle ich mir auch jetzt nicht nur einfach vor. Wie sind Sie eigentlich vorgegangen, sich diese Figur zu erarbeiten?
Timoteo: Also erstens war das totale Vertrauen von Francesco Rizzi da, und dann war es so, dass wir uns entschieden haben, der Schauspieler Vinicio Marchioni und ich, dass wir uns da in echt nicht wirklich begegnen. Wir haben uns privat zweimal getroffen und ansonsten kaum zusammen gesprochen eigentlich während der ganzen Arbeit. Wir haben wie parallel gearbeitet, wie diese Figuren auch. Die leben ja parallel und doch manchmal in selben Räumlichkeiten, aber kommen nie wirklich zusammen.
Burg: Dadurch hat es auch eine sehr schwebende Atmosphäre und eigentlich auch, frage ich mich, welche Rolle der Ort, die Schweiz, dabei spielt, die von den Bildern her auch so ein geheimnisvoller, seltsamer, fast gesichtsloser Ort ist, in dem mal Italienisch gesprochen wird, dann Französisch, dann Schweizerdeutsch.
Timoteo: Es ist eine sehr atypische Schweiz, die man da sieht. Also wenn man die Bilder sieht, würde man nicht sagen, okay, oh, ja, genau, das erkenne ich jetzt, das ist die Schweiz, also wenn man Schwyzerdütsch plötzlich hört oder so, aber es sind, wie Sie genau richtig gesagt haben, unpersönliche Orte eigentlich, sind so Räume mehr, als so definierte Orte. So sehe ich das, genau.
Burg: Es ist vielleicht aber auch ein anderes Bild von der Schweiz, wo Multilingualität auch Kern des Landes ist, oder anders gefragt: Inwieweit ist das vielleicht auch eine Reflexion über Identität und Heimat?
Timoteo: Absolut, kann man sehr gut so sehen.
Burg: Hat das beim Spielen auch eine Rolle gespielt, oder ist das was, was dann die Zuschauer da hineininterpretieren?
Timoteo: Genau. Ich würde sagen, ich habe das nicht gespielt. Das haben Sie jetzt im Film gesehen, und es werden Zuschauer reinprojizieren und auch für sich finden und sehen, was ich sehr toll finde, weil Identität oder Nationalität Fragen sind, wo man sich tatsächlich fragen muss: Gibt es das überhaupt oder sind das nur Konzepte.

"Ich bin froh, dass ich in fünf Sprachen spielen kann"

Burg: Sie haben in über 60 Filmen mitgespielt, mit Philip Gröning gearbeitet – zuletzt bei "Mein Bruder heißt Robert und ist ein Idiot" –, mit Dominik Graf, Christian Petzold, Matthias Glasner. Was hat Sie daran gereizt, mit Francesco Rizzi zu arbeiten beziehungsweise mit einem Debütfilm-Regisseur, der noch nicht so viel Erfahrung hat wie die anderen, die ich eben aufgezählt habe?
Timoteo: Ich arbeite eigentlich mit Leuten, die mich interessieren, also egal, wie viele Filme ich schon gemacht habe. Also so sehe ich das immer wieder und immer wieder neu. Ich spiele auch bei Kurzfilmen mit, wenn es mich interessiert und wenn die Welt, die da erzählt werden will oder die Fragen, die gestellt werden wollen, mich fesseln, dann mache ich mit. Ansonsten lasse ich es. Das hat nichts mit Bekanntheitsgrad oder mit Erfahrung oder was auch immer zu tun, sondern mit dem Inhalt und mit der Menschlichkeit.
Burg: Sie arbeiten viel in Frankreich, Italien, der Schweiz, aber auch sehr, sehr viel in Deutschland. Das ist ja nun ein Schweizer Film. Wie hat sich eigentlich das Filmschaffen in der Schweiz in den letzten Jahren entwickelt? Sind da mehr Rollen für Sie, die interessant sind? Wie beobachten Sie die Entwicklung?
Timoteo: Also ich kann einfach nur sagen, dass ich froh bin, dass ich in fünf Sprachen spielen kann. Ich könnte sonst davon nicht leben, ganz einfach. Also ich könnte unmöglich vom Schweizer Filmemachen leben. Ich überlebe damit, weil ich, wie Sie gesagt haben, europaweit arbeiten kann. Ich bin jetzt zum sechsten Mal wieder nominiert für den Schweizer Filmpreis, das heißt, es gibt eine Gemeinschaft in der Schweiz, die meine Arbeit schätzt.
Das heißt auch, dass ich regelmäßig immer wieder in der Schweiz arbeiten darf und sowohl auf Italienisch, Französisch, Schwyzerdütsch oder Hochdeutsch. Das ist ganz toll, weil das ist ja in der Schweiz auch nicht gegeben, weil es da diesen Röstigraben gibt, wo es quasi Grenzen innerhalb des Landes gibt, also eine Sprachgrenze, aber auch eine kulturelle Grenze, würde ich sagen. Dass man da, wie ich das jetzt darf, überall aber einen Fuß drin hat, das ist eher selten. Ich würde mir wünschen, dass es öfter für andere Kollegen auch vorkommen würde, weil das ja ein Reichtum ist.

Ihre Muttersprache ist Berndütsch

Burg: Fühlen Sie sich denn in allen Sprachen gleich zu Hause? Macht das für Sie einen Unterschied, in welcher Sprache Sie arbeiten?
Timoteo: Ja, klar, das sind Welten. Eine Sprache ist eine Welt, ist eine Kultur, ist eine Art, den Mund zu bewegen, ist eine Art, im Körper zu sein oder im Kopf oder wie auch immer und zu spüren. Das ist für mich ein großes Reichtum, so weit reisen zu dürfen dank der Sprachen, aber zu Hause, wirklich zu Hause fühle ich mich eigentlich, und wenn ich ganz ehrlich bin, in keiner, weil ich dreisprachig aufgewachsen bin. Meine Muttersprache ist Schwyzerdütsch, also Dialekt, Berndütsch sogar. Die erste Sprache, die ich aber gesprochen habe, war Englisch.
Burg: Weil Sie in den USA gelebt haben.
Timoteo: Genau, und dann habe ich aber für Gröning Hochdeutsch lernen müssen, mir das quasi aneignen müssen. Als Kind war Französisch in der Schule, in Lausanne, also in der französischen Schweiz. Also zu Hause Schwyzerdütsch und Englisch, dann Französisch, und dann kam Italienisch dazu und Spanisch dann, weil der Vater meiner Kinder Peruaner ist. Somit viele Sprachen, aber wo bin ich zu Hause – ich bin immer wieder da zu Hause, wo ich was zu tun habe. So würde ich das sagen. Ich eigne mir das wirklich an. Ich habe jetzt eine Arbeit in München, da muss ich meinen Text ganz anders lernen, glaube ich, als jemand, der wirklich in Deutschland aufgewachsen ist und in der Sprache groß geworden ist. Wenn ich jetzt in "Cronofobia" das auf Italienisch spreche, muss ich das auch noch mal ganz anders lernen als jemand, der das einfach kann, weil es kommt nicht …
Burg: ... nicht so selbstverständlich wahrscheinlich.
Timoteo: Es ist keine Selbstverständlichkeit. Mein Gehirn muss da irgendwelche Kurven nehmen, und manchmal hapert es ein bisschen, je nachdem. Je älter ich werde desto … ein bisschen weniger flexibel als früher.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandfunk Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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