Ruta Vanagaitè: "Die Unsrigen"

Enthüllungen über Litauens Holocaust-Vergangenheit

Die litauische Autorin Ruta Vanagaitè beim Signieren des des Buches "Die Unsrigen"
Die litauische Autorin Ruta Vanagaitè bei der Vorstellung des Buches "Die Unsrigen" © AFP / PETRAS MALUKAS
Von Carsten Schmiester · 29.03.2016
Litauen debattiert über ein Buch. Die Autorin, Ruta Vanagaite, packt mit ihrem "Die Unsrigen" ihre Landsleute an einem wunden Punkt. Es geht um die historische Verantwortung der litauischen Gesellschaft am Holocaust.
"Es gibt viele Plätze wie diesen hier in Litauen, mehr als 200. Und sie ähneln sich alle. Wunderschöne Wälder und plötzlich bist Du am Tatort eines Massenmordes."
Efraim Zuroff steht im Wald von Paneriai, etwa zehn Kilometer außerhalb der Hauptstadt Vilnius. Der Winter geht, aber die Kälte ist noch da, kriecht in die Kleidung und ist doch nur der geringste Grund für dieses ganz starke Gefühl: "Ich will hier weg!" Weggehen, oder wenigstens Wegsehen. Aber das geht nicht, sagt Zuroff, es geht nicht mehr.
Der Mann leitet das Jerusalemer Büro des Simon-Wiesenthal-Zentrums, er verfolgt Nazi-Verbrechen und Verbrecher und hat der litauischen Autorin Ruta Vanagaitè geholfen, das Buch "Die Unsrigen" zu schreiben. Auf gut 300 Seiten geht es darin um die Mittäterschaft von Litauern bei der massenhaften Ermordung von Juden unter deutscher Besatzung ab 1941. Ein Thema, über das in dem baltischen Staat kaum gesprochen wurde.
Juden, das waren damals doch alles Kommunisten, die unter sowjetischer Herrschaft die Deportation von Litauern mit verantwortet hatten? Und außerdem haben ja nur sehr wenige Litauer beim Holocaust mitgemacht. So hat man es hier immer gesehen und so sehen es viele noch heute, sagt die Autorin, aber das stimmt nicht. Mehr als 200.000 Juden sind in Litauen ermordet worden, tausende Litauer haben sich laut Vanagaitè an den Morden beteiligt und am Besitz der Getöteten bereichert.

Buch spaltet das Land

"Aber offiziell heißt es, dass es nur wenige Mittäter gab. Wer etwas anderes sagt, tut das nur in kleinen wissenschaftlichen Kreisen und auch da nur sehr leise. Wer damit öffentlich auftritt, im Fernsehen etwa, oder wer ein Buch schreibt, der riskiert seinen Job, haben mich manche Historiker gewarnt."
Und trotzdem hat sie recherchiert und geschrieben und spricht offen über ihr Thema. Eine muss es ja tun, davon ist sie überzeugt und dafür nimmt sie es in Kauf, angefeindet und als "Verräterin" beschimpft zu werden.
"Mir ist klar geworden, dass Leute etwa in Behörden nichts sagen wollten. Sie hatten Angst um ihre Jobs so wie wir alle zu Sowjetzeiten Angst vorm Geheimdienst KGB hatten. Aber ich bin Schriftstellerin, habe keinen festen Arbeitsplatz und also nichts zu befürchten."
Immerhin, in Litauen ist ihr Buch ganz oben auf der Bestsellerliste. Das Interesse ist also da, auch wenn sich Zustimmung und Ablehnung nach ihren Worten die Waage halten. "Die Unsrigen" spaltet das Land, dem es eine unbequeme Debatte aufgezwungen hat und unbequemes Erinnern. Etwa an den Wald von Paneriai, wo 70.000 bis 80.000 Juden erschossen worden sind, darunter viele Frauen und Kinder. Und zwar fast ausschließlich von litauischen Exekutionskommandos, die von den Deutschen später sogar nach Weißrussland abkommandiert wurden, weil man sie für äußerst verlässlich und "tüchtig" hielt, sagt Vanagaitè. Dann erzählt sie, wie sie selbst im Zuge ihrer Recherchen selbst von der Vergangenheit eingeholt worden ist. In ihrer Familie gab es Kollaborateure. Wenn sie im Buch über "die Unsrigen" schreibt, dann schreibt sie ganz persönlich auch über "die Meinen".

Viele wollen wegsehen

"Mein Großvater hat Listen mit den Namen von Juden zusammengestellt. Vielleicht wusste er nicht, wozu die Deutschen diese Listen brauchten. Aber er hat es getan und als Lohn jüdische Zwangsarbeiter für seinen Hof bekommen. Und ein Vetter meiner Tante war Polizist unter den Deutschen. Ich glaube, dass keiner der beiden geschossen hat, aber mitgemacht haben sie schon."
Und das macht die Sache für die Autorin doppelt schwer. Sie berichtet nicht über "irgendwelche" verbrecherischen Litauer. Es gab sie sogar in ihrer eigenen Familie.
"Wenn selbst Verwandte von mir beteiligt waren, frage ich mich, wie viele Tausende Litauer wohl Goldzähne oder Kleidung genommen oder Häuser billig gekauft haben. Weiß ich, ob meine alte Wanduhr oder mein Haus rechtmäßig erworben wurden? Das sollte sich jeder fragen. Denn wenn es mich angeht, dann geht es sehr viele an."
Also auch Birute, eine heute 70 Jahre alte Frau aus Vilnius? Sie hat, wie alle Menschen im Land, vom Buch gehört und vom Streit darüber. Sie hat es sich gekauft und gelesen und eine klare Meinung dazu:
"Was vorbei ist, ist vorbei. Es kommt doch niemand zurück. Aber jetzt kommt das alles wieder nach Oben, so ganz ohne Not. Es haben doch Deutsche und Litauer geschossen, daran ändert das Buch nichts mehr. Und selbst wenn von den Mördern noch einige leben, ihre Kinder sind unschuldig."

Die Debatte ist noch lange nicht vorbei

Wer auf den Straßen der Hauptstadt die Menschen nach ihrer Meinung fragt, bekommt meist Antworten wie diese. Überwiegend kritisch bis ablehnend. Das ist dann viel von Übertreibung die Rede, von der öffentlichen Aufarbeitung Vanagaitès‘ eigener Familiengeschichte. Man würde gerne beim alten Erklärmuster bleiben: Die vermeintlich bösen Juden hatten mit den ganz bösen Russen gemeinsame Sache gegen die guten Litauer gemacht. Was mit den Juden später geschah, haben dann vor allem die Deutschen zu verantworten. Es ist schwer, differenzierte Äußerungen zu bekommen, aber es gibt sie, wie etwa diese hier von der 20jährigen Kristina:
"In vielen Büchern und Berichten steht eine Menge auch über Menschen, die hier Juden gerettet haben. Darauf kann man stolz sein. Zugleich sollten wir uns aber unserer Verantwortung stellen, wenn Verwandte früher Fehler gemacht haben. Ich denke, dass das Buch nötig war, denn wir neigen dazu, die Schuldigen erst einmal woanders zu suchen. Wir müssen über das Thema reden, es bleibt noch lange wichtig."
Und diese Debatte wird noch lange dauern. Sie hat je gerade erst begonnen und trägt gerade erst Früchte. Unter anderem hat die Regierung zugesagt, eine ihr angeblich seit Jahren vorliegende Liste mit den Namen von mehr 1.000 mutmaßlichen Kollaborateuren zu veröffentlichen. Auch, damit die Nachfahren all derjenigen, die eben nicht auf dieser Liste stehen, wissen, dass ihre Vorfahren zu Unrecht verdächtigt worden sind. Ruta Vanagaitè wäre sicher froh, wenn sie zu diesen Litauern zählen würde, in deren Familien es keine Täter gegeben hat. Aber sie zählt nicht dazu, wie sie durch ihre eigenen Recherchen weiß: Der Opa, der Vetter der Tante, sie waren dabei und das macht ihr heute zu schaffen, hat sie zum Nachforschen angetrieben. Ja, sie hat Familiengeschichte öffentlich aufgearbeitet. Da, aber auch nur da haben ihre Kritiker Recht. Das Ergebnis spricht allerdings für sich, es ist wichtig und richtig!
"Ich musste irgendwie für meine Schuld büßen. Auch wenn es keine große Schuld ist. Ich musste zu den Gräbern gehen und darüber berichten. Wer immer an diese Orte kommt, sollte es machen wie ich - einen kleinen Stein hinlegen und eine Kerze anzünden."
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