"Russlands hoher Norden"

Rezensiert von Joachim Baumann |
"Das allerschönste ist die Nacht, wenn es still und ruhig ist, dann ist da ein Frieden und eine Unendlichkeit, das Universum in einem. "
So hat Dirk Sager Russlands hohen Norden oft erlebt und seine weiche, fast melancholische Stimme steht dabei im krassen Gegensatz zur Härte, die das Leben für die Menschen am nördlichen Ende des Landes bereithält.

Das Buch ist ein Ergebnis mehrerer Fahrten des renommierten Fernsehjournalisten über einen Zeitraum von sechs Jahren. Dirk Sager bereiste die 9000 km lange Küste von Murmansk bis an den Rand von Alaska - entlang der in der Seefahrtsgeschichte berühmt-berüchtigten Nordostpassage.

Russlands hoher Norden ist aber nicht nur eine abenteuerliche Reisebeschreibung. Auf seinen strapaziösen Fahrten per Helicopter, Eisbrecher, Jeep oder Hundeschlitten begegnet Dirk Sager vielen Menschen mit ihren oft traurigen Schicksalen. Sie erzählen von ihren großen Entbehrungen und den kleinen Freuden des Alltags, er sieht die Macht des Alkohols und der staatlichen Organe - und: über allem schwebt noch heute der Schatten des Gulag, der Hauptverwaltung der Straflager.

In fließenden, für den Leser kaum merklichen Übergängen, wechselt der Autor zwischen den historischen Fakten, Landschaftsbeschreibungen und dem heutigen Alltag. Dabei hält Dirk Sager stets illustrative Episoden aus der Vergangenheit zur Erklärung der Gegenwart bereit. Beispielsweise das unmenschliche Mammutprojekt Stalins, eine Eisenbahnlinie durch Nordsibirien zu bauen. Zeitzeugen sprechen von drei toten Gulaghäftlingen, die unter jeder Schwelle liegen - im wahrsten Sinne des Wortes. Dirk Sager besucht auch die Kumpel im ehemals gefürchteten Gulag bei Workuta, wo noch heute Steinkohle unter schwersten Bedingungen gefördert wird. Dafür fährt er in den 500 Meter tiefen und nicht sehr sicheren Stollen ein. Er beschreibt die Einzelschicksale, die für Tausende stehen.

Stalins ließ die Menschen zur Strafarbeit in den Norden deportieren, unter Breshnew lockte man sie mit hohen Gehältern. Und heute?
Sager: "Ich habe da nur wenige Leute getroffen, die da gern bleiben möchten, die aber keine Chance haben zurückzukommen in den Süden, weil sie im Süden keine Wohnung haben, keine Arbeit haben und auch nicht Geld genug haben, um den Umzug zu bewerkstelligen. Das heißt auch ohne dass der Norden ein Gulag ist, ist er für viele wieder ein Gefängnis geworden."

Dirk Sager gibt in einer bildhaften Sprache nicht nur die Leidensbereitschaft der einfachen Leute wieder. Er beschreibt das Leben in ärmlichen Hütten, ohne jedoch die sprichwörtlich russische Gastfreundschaft zu vergessen, die ihm an vielen Orten entgegengebracht wurde: Freundlichkeit, das letzte Stück Fleisch, Brot und Speck, Wodka und Tee.

Doch der Autor wäre kein guter Journalist, würde er nicht auch die Gründe für Misswirtschaft, Korruption und Ungerechtigkeit aufzeigen. Kritisch werden seine Worte immer dann, wenn kommunistische Vergangenheit und politische Gegenwart aufeinander trafen. Massengräber bei St. Petersburg aus der frühen KGB-Zeit, Rohstofflager im nördlichen Norilsk, der Untergang der Kursk, die maroden Atom-U-Boote in Murmansk oder die Verstrickungen des Ölmagnaten Chodorkowski mit dem Putinismus - das ist der Stoff, aus dem Dirk Sager seine Analysen zieht.

Doch, und das macht das Buch glaubens- und empfehlenswert, der Autor kehrt stets, fast fließend und unmerklich, zu den Menschen zurück, denen seine große Sympathie gilt, dem einfachen russischen Volk:

Sager: "Ich fand sehr bewegend diesen Arbeiter in Norilsk, dieser Bergwerks- und Hüttenstadt weit nördlich des Polarkreises, der längst über dem Pensionsalter ist, der aber trotzdem weiter arbeitet, weil er von seiner Pension nicht leben kann - giftige Arbeit - und der sagte gradezu mit lyrischen Worten: ich möchte noch einmal über eine grüne Wiese gehen, noch einmal Blumen sehen, denn all das gibt es da nicht. Das war, kann ich in der Rolle als schnöder Journalist nur sagen, herzzerreißend. "

Russlands hoher Norden - das Buch enthält zur Orientierung geographische Skizzen, die den Weg von St. Petersburg bis zum Polarmeer aufzeichnen. Sie verdeutlichen die riesige Distanz, die der Autor bei seinen Reisen zurücklegte. Einige Stationen sind durch eine kleine Auswahl aus dem umfangreichen Bildmaterial illustriert.

Dirk Sager wirbt mit seinem Buch um viel Verständnis für eine Welt, die uns Westeuropäern fremd und mit Legenden verbunden ist. Seine Kompetenz, seine Bildersprache und seine Liebe zum Detail bringen uns das ferne Reich näher.

Dirk Sager: Russlands hoher Norden - Eine Reise von St. Petersburg bis zum Polarmeer