Russland

"Ich kann nicht anders leben"

Michail Chodorkowski bei der Vorstellung seines Buches "Meine Mitgefangenen" am 12. Juni 2014 in Berlin
Michail Chodorkowski bei der Vorstellung seines Buches "Meine Mitgefangenen" am 12. Juni 2014 in Berlin © dpa / picture alliance / Jörg Carstensen
Von Isabella Kolar · 18.06.2014
Bei der Präsentation seines Buches "Meine Mitgefangenen" in Berlin dankt Putins bekanntester Kritiker Michail Chodorkowski unter anderem Deutschland. Russland prophezeit er den Zusammenbruch oder ein faschistisches Regime.
"Meine Mitgefangenen. Sergej Sergejewitsch. Diese Aufzeichnungen mache ich, weil ich allen Menschen, die nicht gleichgültig sind, erzählen möchte, was ich selbst empfand, als ich ins Gefängnis kam. Nach einer gewissen Zeit, als ich mich von einem gewöhnlichen Opfer in einen interessierten Beobachter verwandelt hatte, stellte ich fest, dass die meisten über Menschen im Gefängnis rein gar nichts wissen. Dabei befindet sich hier jeder hundertste Bewohner unseres Landes, jeder zehnte, wenn nicht gar siebte Mann kommt einmal hinter Gitter."
Man könnte in diesem Moment eine Stecknadel fallen hören. Michail Chodorkowski sitzt oben auf dem Podium, bringt behutsam seine dunkelrote Krawatte in Form, und schaut wieder konzentriert auf den Schauspieler Ulrich Noethen, der den hundert geladenen Journalisten einen Ausschnitt aus Chodorkowskis neuem Buch "Meine Mitgefangenen" vorliest. Zehn Jahre hatte Chodorkowski Zeit, sie zu studieren. Das erste Urteil im Jahr 2005 traf ihn völlig unerwartet:
"Für mich war das ein absoluter Schock. Zu verstehen, dass das Gericht der Ort ist, an dem das Schicksal eines Menschen tatsächlich niemanden interessiert und auch die Wahrheit niemanden interessiert und eigentlich auch das Gesetz niemanden interessiert. Am Ende meines ersten Prozesses sollten drei Richterinnen mein Urteil unterschreiben. Hinterher hat man mir erzählt, dass eine der Richterinnen geweint hat, bevor sie unterschrieb. Trotzdem: Sie hat unterschrieben."
Chodorkowski hatte mit vielen anderen Oligarchen und späteren Putin-Getreuen von der Wirtschaftskrise und der folgenden Umverteilung unter Präsident Jelzin profitiert. Aber nach einem öffentlichen Clash mit dessen Nachfolger Putin im Jahr 2003 zum Thema Korruption waren er und die Mitarbeiter seines Ölkonzerns Jukos die Einzigen, an denen ein Exempel statuiert wurde:
"Putin hatte damals schon die Entscheidung getroffen, dass die Korruption zur tragenden Säule seines Regimes werden würde. Er ist bis heute davon überzeugt und beweist es sehr deutlich, dass die Korruption auch effektiv ist als tragendes Element der Außenpolitik."
Am 9. März trat der 50-Jährige auf dem Maidan in Kiew auf und rief in die Menge: "Vergesst nicht, es gibt auch ein anderes Russland". Die Zukunft für dieses Russland sieht er eher düster, eine Krise sei − wann auch immer sie zum Ausbruch komme − unausweichlich, da das Defizit in dem Teil des Haushalts, das vom Ölgeschäft losgekoppelt sei, jährlich wachse:
"Die Folgen dieser Krise können unterschiedlich sein. Die erste Variante: der Zusammenbruch des Landes. Die zweite Variante: ein faschistisches Regime. Oder ein stark nationalistisches Regime und danach wieder der Zusammenbruch des Landes. Doch die russische Geschichte zeigt – immerhin dauert sie schon über eintausend Jahre – dass das Land meist im letzten Moment einen Ausweg findet. Nur rufe ich meine Landsleute auf, nicht zu denken, dass dieser Ausweg außerhalb ihrer persönlichen Möglichkeiten liegt. Der Ausweg ist in uns, entweder schaffen wir das mit unseren eigenen Händen oder es wird ihn nicht geben."
Chodorkowski will sich jetzt der Wiederherstellung seiner Familie widmen, die mit ihm in der Schweiz lebt. Politisches Engagement inklusive. Er könne nicht anders, sagt er und lächelt an diesem Abend im Literaturhaus in Berlin fast schüchtern in die Kameras:
"Ich weiß, dass in Deutschland verschiedene Ansätze existieren, das Geschehen in Russland zu beurteilen: manche finden, dass die Geschäfte wichtiger sind als die Menschenrechte, ich kann das als ehemaliger Unternehmer verstehen, als ehemaliger Gefangener kann ich das nicht akzeptieren. Ich bin aber sehr glücklich, dass es einen anderen Teil der deutschen Gesellschaft gibt, der sich tatsächlich sehr dafür einsetzt, dass das autoritäre Regime, dass in Russland existiert, etwas weniger unmenschlich wird. Wir registrieren das in Russland und sind dafür sehr dankbar."