Russland

Attacke auf NGO Memorial in Moskau

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Eine Frau öffnet die Tür zum Büro der Memorial Rights Group, einer in Moskau ansässigen Menschenrechtsorganisation. (Foto von 2013)
Organisierte Störer drangen in die Räumlichkeiten der Menschenrechtsorganisation Memorial in Moskau ein und beschimpften das Kinopublikum als "Faschisten". © AFP / Kirill Kudryavtsev
Von Sabine Adler · 15.10.2021
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Bei einer Filmvorführung hat ein Mob von selbsternannten "Patrioten" die Räume der Menschenrechtsorganisation in Moskau überfallen. Deutsche zivilgesellschaftliche Organisationen fordern "ein Ende der Einschüchterungsmanöver gegenüber Memorial".
Ein Rollkommando von mehr als 20 jungen Männern stürmte gestern Abend eine Filmvorführung in den Moskauer Räumen der Menschenrechtsorganisation Memorial. Die ungebetenen Gäste wurden begleitet von einem Filmteam des staatlichen russischen Fernsehsenders NTW, der für seine negative Voreingenommenheit gegenüber der NGO seit Jahren bekannt ist. Der über den Hintereingang eingedrungene Pulk stieg auf die Bühne und beschimpfte von dort aus die Zuschauer der Vorführung.

Polizei kam spät und fasste die Täter nicht

Gezeigt werden sollte "Mr. Jones", ein als Thriller erzählter Film der polnischen Regisseurin Agnieszka Holland über die Hungersnot zur Stalinzeit. Ein britischer Journalist, Gareth Jones, wird Zeuge des hunderttausendfachen Sterbens vor allem in der Ukraine, wo diese Katastrophe bis heute "Holodomor" genannt wird.
Die Aufführung war zwischen dem russischen Außenministerium und der polnischen Botschaft in Moskau abgestimmt worden. Memorial, die von Friedensnobelpreisträger Andrej Sacharow gegründete Menschenrechtsorganisation, ist die älteste Russlands. Sie hat sich vor allem die kritische Aufarbeitung der Sowjetgeschichte zur Aufgabe gemacht.
Dass der Mob die Filmvorführung zunächst ungehindert stören konnte, lag auch am späten Eintreffen der Polizei. Erst 15 Minuten nach dem Notruf waren die Kräfte vor Ort, obwohl sich eine Dienststelle genau auf der anderen Straßenseite befindet.
Alexandra Poliwanova, Mitarbeiterin von Memorial, schilderte, dass außer der Polizei Vertreter vom Inlandsgeheimdienst FSB, der Nationalgarde sowie vom Zentrum zur Verfolgung von Extremismus "Zentr E" kamen. Jedoch nicht, um die Täter zu fassen, sondern um die Räume zu durchsuchen und alle Zuschauer zu befragen. Die mussten schriftlich erklären, wie und durch wen sie von der Veranstaltung erfahren haben.

Deutsche Partner fordern Untersuchung

Das organisierte Überfallkommando angeblicher "Patrioten" bezeichnete das geladene Publikum als Faschisten und internationale Agenten. Eine Zuschreibung, die das Justizministerium offiziell für die Memorial-NGO vorgenommen hat. Wie auch für Dutzende anderer russischer Gruppierungen.
Vertreter von deutschen zivilgesellschaftlichen Organisationen und Partner von Memorial protestieren in einer gemeinsamen Erklärung mit dem Titel "Hände weg von Memorial!" gegen die wiederholten Einschüchterungsversuche gegen die Menschenrechtsorganisation. Sie forderten zudem Ermittlungen gegen die Eindringlinge. Zu den Unterzeichnern gehört die Heinrich-Böll-Stiftung, das Zentrum Liberale Moderne, der Deutsch-Russische Austausch – drei in Moskau offiziell unerwünschte Organisationen.
Die Männer, die organisiert gestört hatten, verließen das Gebäude wenig später ungehindert. Jedoch nicht alle.

Erst sechs Stunden nach dem Überfall entlassen

"Sie haben gute zehn Minuten rumgeschrien. Wir haben danach drei von ihnen festgehalten und der Polizei übergeben. Aber sie wurden garantiert auf der Straße schon entlassen, wie das bei uns oft geschieht", sagt Irina Scherbakowa gegenüber dem Fernsehsender Doschd.
Scherbakowa ist bei Memorial für geschichtliche Bildung verantwortliche. Für sie und alle Mitarbeiter war es ein langer Abend, sie wurden erst sechs Stunden nach dem Überfall entlassen. Da hatte der Störtrupp seine Sache längst erledigt.
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