Russischer Impfstoff gegen Corona

Ein zweifelhafter Durchbruch

07:27 Minuten
Ampullen mit dem Impfstoff Gam-COVID-Vac - oder auch Sputnik-V - stehen bei einer Pressekonferenz in Moskau auf einem Tisch.
Forscher weltweit warten auf wissenschaftliche Publikationen: Ampullen mit dem Impfstoff Gam-COVID-Vac - oder auch Sputnik-V. © picture alliance / dpa / Mikhail Japaridze / TASS
Von Palina Milling · 03.09.2020
Audio herunterladen
Kann nun endlich ein kleiner Pikser die Welt verändern? Wladimir Putin hat es verkündet: Als erstes Land überhaupt hat Russland einen Corona-Impfstoff zugelassen. Das Problem dabei ist, wissenschaftliche Belege für seine Wirksamkeit fehlen.
Russland hat seinen neuen Sputnik rausgeschickt: diesmal nicht ins Weltall, sondern in die medizinische Laufbahn. Sputnik-V - so heißt der russische Impfstoff gegen das Coronavirus - sorgte für viele Schlagzeilen.
Russlands Staatschef Wladimir Putin verkündete die Zulassung persönlich: "Zum ersten Mal auf der Welt ist ein Impfstoff gegen das Coronavirus zugelassen. Ich weiß, dass der Impfstoff ziemlich wirksam ist, zu einer stabilen Immunität verhilft und alle notwendigen Tests bestanden hat."
Die Arbeit an Sputnik-V begann im Januar – schon im August erfolgte die Zulassung. Vitali Swerew, ein renommierter russischer Mikrobiologe, kann sich nicht erinnern, dass ein Impfstoff in Russland je so schnell zugelassen worden ist.

Nicht die komplette Strecke gelaufen

"Man kann einen Impfstoff auch in einer Woche erschaffen", sagt er. "Oder in einem Monat, oder in einem halben Jahr - wie das jetzt der Fall ist. Aber man kann in diesem Zeitraum unmöglich beweisen, dass er ungefährlich und effektiv ist."
Man begebe sich hier in einen Wettlauf, sagt Swerew. Mit der Zulassung von Sputnik-V glaubt Russland, es in diesem Wettlauf als erstes Land der Welt über die Ziellinie geschafft zu haben. Doch nach Auffassung der Kritiker ist Russland nicht die komplette Strecke gelaufen: Denn der russische Impfstoff wurde nach nur zwei Phasen der klinischen Tests registriert, obwohl drei der Standard sind.
"Wir haben streng nach russischen Gesetzen gehandelt. Und russische Gesetze entsprechen den internationalen Standards und den Regulierungsnormen, die auch überall auf der Welt angewendet werden", versicherte Wladimir Putin.

Staunen über fehlende dritte Phase

Am Impfstoff gegen das Coronavirus arbeiten Forscher in den USA, China, Großbritannien, Israel und Deutschland. In einigen dieser Länder befinden sich die Impfstoffe gerade in der dritten Phase der Forschung.
Stephan Becker leitet das Institut für Virologie an der Philipps-Universität Marburg. Und staunt darüber, dass Russland die dritte Phase bei der Zulassung quasi übersprungen hat.
"In der Phase III wird dann ja untersucht, ob der Impfstoff wirksam ist", erklärt er. "Man kann in den ersten Phasen untersuchen, ob er sicher ist und ob er eine Immunität auslöst. Aber ob diese Immunität auch geeignet ist, einen Schutz gegen das Virus hervorzurufen, das weiß man erst nach einer klinischen Phase-III-Studie."
Das wollen die russischen Forscher jetzt, nach der Zulassung, auch herausfinden. Eine Bedingung, die auch in der Zulassungsurkunde festgehalten ist. Doch die Phase III hat immer noch nicht begonnen.
Aber bald, versicherte der Gesundheitsminister: "Wir stellen jetzt den Impfstoff in Serie her, führen Qualitätskontrollen durch. Ich denke, wir werden schon nächste Woche die Patienten für die Tests auswählen. Das wird parallel zur klinischen Anwendung laufen."
Das bedeutet, dass der Impfstoff, der vor der Zulassung an nur 76 Personen getestet wurde, bereits als Impfung eingesetzt werden soll. Und dies würde gleichzeitig als Phase III der Studie gelten. Die Zahl der Teilnehmer: zwischen zwei- und 40.000. Wann man mit den Ergebnissen der Phase III rechnen darf, ist bisher nicht genau bekannt.

Warten auf wissenschaftliche Publikationen

Währenddessen warten die Forscher auf der ganzen Welt auf wissenschaftliche Publikationen zumindest zu den bisherigen Tests am russischen Impfstoff.
Der Leiter des Gamaleya-Instituts, in dem Sputnik-V entwickelt wurde, Alexandr Ginzburg verspricht: "Ein Artikel wird veröffentlicht. Und bisher konnte sich die Forschungsgemeinschaft mit unseren Studien auf der Webseite clinicaltrials.gov vertraut machen. Dort ist unsere klinische Forschung auf mehreren Seiten sehr ausführlich beschrieben."
Diese Webseite - clinicaltrials.gov - gehört der US-amerikanischen nationalen Medizinbibliothek. Seit Juni werden dort Informationen zum russischen Impfstoff veröffentlicht und aktualisiert. Es gibt jedoch den Hinweis: Der Sponsor der Studie und die Forscher seien für die Sicherheit und wissenschaftliche Gültigkeit verantwortlich. Die Auflistung bedeute nicht, dass die Studie von der US-Regierung ausgewertet wurde.
Statt mit geprüften wissenschaftlichen Angaben wird auf höchster Ebene mit persönlichen Erfahrungen für die Wirksamkeit und Sicherheit des Impfstoffs geworben.

"Alles okay, ihr geht es gut"

Wladimir Putin erzählt wiederholt, dass eine seiner Töchter sich mit Sputnik-V hat impfen lassen. Und als hätte der Papa ein Fiebertagebuch geführt, geht er auch auf die Nebenwirkungen nach der Impfung ein.
"Am ersten Tag hatte sie 38,4 Grad Fieber, am zweiten Tag - etwas mehr als 37 Grad", sagt er. "Das war es dann aber auch. Und in 21 Tagen, nach der zweiten Impfung, ist das Fieber auch leicht gestiegen. Aber alles okay, ihr geht es gut."
Inzwischen läuft in Russland die Massenherstellung des Impfstoffs an, zwei Unternehmen produzieren ihn. Als Erste sollen Lehrer und Medizinpersonal geimpft werden. Sie sind aus der Sicht der Regierung besonders gefährdet. Die Impfung soll aber freiwillig sein.
Wann in Russland mit Sputnik-V breit geimpft werden kann, ist noch unklar. Der Gesundheitsminister erklärte für Oktober den Start der Massenimpfungen. In der Zulassungsurkunde wird dagegen der erste Januar 2021 genannt. Dann soll der Impfstoff auf dem freien Markt verfügbar sein.

"Eine Riesengefährdung der Bevölkerung"

In Russland sollen bis zu 50 Millionen Menschen gegen Covid-19 geimpft werden. Doch solange der Impfstoff nicht genügend erforscht ist, könnte das gravierende Folgen haben, sagt Joerg Hasford, Vorsitzender des Arbeitskreises der medizinischen Ethikkommissionen.
"Wenn Sie Leute impfen, denen den Eindruck vermitteln, sie wären jetzt geschützt und sie sind gar nicht geschützt. Denn wenn man denkt, ich bin ja geimpft, dann achte ich auf vieles nicht mehr so – Händewaschen, Hygiene, Gesichtsmasken – und dann wirkt der gar nicht, das ist doch eine Riesengefährdung auch der Bevölkerung", kritisiert er.
Der russische Gesundheitsminister schüttelt über die Kritik aus dem Ausland nur den Kopf: "Ausländische Kollegen sehen sich offenbar in einem gewissen Wettbewerb und spüren die Wettbewerbsvorteile des russischen Impfstoffs – und sie äußern Kritik, die aus unserer Sicht absolut unbegründet ist."
In Russland wird in diesen Tagen deshalb gerne betont, wie groß die Nachfrage nach dem Impfstoff sei. 27 Länder hätten mittlerweile ihr Interesse an Sputnik-V bekundet.
Mehr zum Thema