Russische LGBT-Community in Berlin

"Ich habe mich lange Zeit nicht geoutet"

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Demonstration gegen Homofeindlichkeit 2017 in Berlin.
Demo gegen Homofeindlichkeit 2017 in Berlin: Die Teilnehmer prangern die Verfolgung queerer Menschen in Tschetschenien an. © picture alliance / ZUMA Wire / Jan Scheunert
Von Gesine Dornblüth · 05.10.2020
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Fliehen russischsprachige Menschen wegen ihrer sexuellen Orientierung aus ihrer Heimat nach Berlin, treffen sie dort oft auf eine große russische Gemeinschaft, in der Vorurteile gegenüber Schwulen verbreitet sind. LGBT-Aktivisten wollen aufklären.
Am Wochenende sind die Cafés rund um den Berliner Nollendorfplatz schon am Vormittag gut gefüllt. Oft sitzen zwei Männer an einem Tisch oder zwei Frauen. Auf den Balkonen in den Straßen wehen Regenbogenfahnen. Das Viertel ist beliebt bei Schwulen und Lesben, Bisexuellen und Transgender, bei queeren Menschen.
Konstantin Sherstyuk beißt in ein Himbeercroissant. Der 33-Jährige wohnt gleich um die Ecke. Er kam als Jugendlicher mit seiner Mutter aus Moskau nach Deutschland. Er hat eine Weile gebraucht, bis er sich als schwul outete.
"Als ich nach Berlin kam, hier in die Schule ging, da habe ich viele russisch- und deutschsprachige Freunde gefunden. Aber leider haben so viele meiner russischsprachigen Freunde so verschiedene schwulenfeindliche Witze gemacht. Die waren also nicht wirklich homophob, aber es war einfach typisch für russischsprechende Jugendliche, über Schwule Witze zu machen. Damals, aber auch jetzt. Und deshalb habe ich ganz lange Zeit auch nicht geoutet."
Mittlerweile ist Sherstyuk voll in die Berliner queere Szene eingetaucht. Er arbeitet bei einer Schwulenberatung, betreut dort Geflüchtete. Außerdem ist er Mitglied bei Quarteera, einem Verein russischsprachiger LGBT-Menschen. "Ziel von Quarteera ist es, russischsprechende Menschen aufzuklären und die russischsprechende LGBT-Community zu unterstützen."

Homosexualität gilt dort als Krankheit

In den meisten Herkunftsländern der russischsprachigen Migranten ist Homosexualität verpönt, gilt als Krankheit und sogar als ansteckend, nicht selten werden queere Menschen diskriminiert. In Turkmenistan und Usbekistan ist Homosexualität bis heute ein Straftatbestand. Und auch aus der russischen Teilrepublik Tschetschenien weiß Sherstyuk Schlimmes zu berichten. "Da werden die Menschen von verschiedenen Staatsorganen verfolgt, von Familien verfolgt, und die werden da verhaftet, gefoltert und auch ermordet, in Tschetschenien."

Ein Problem ist, dass die Menschen, die aus diesen Regionen vor sexueller Diskriminierung nach Deutschland fliehen, hier in der Regel auf russischsprachige Migranten treffen, die die Vorurteile über sexuelle Minderheiten aus ihrer Heimat nach Deutschland mitgebracht haben. Viele russischsprachige Menschen schauen auch in Deutschland weiterhin russisches Staatsfernsehen, und dort wird über Schwule allenfalls negativ berichtet.
Der Verein Quarteera will diese Menschen aufklären. So entstand die Idee, eine Pride-Parade, eine Kundgebung für sexuelle Vielfalt, in dem Bezirk zu organisieren, in dem besonders viele Russischsprachige wohnen: in Marzahn-Hellersdorf.

Eine Pride Parade durch Marzahn

Das Zentrum von Marzahn erinnert an osteuropäische Großstädte. Hochhäuser, um die 20 Stockwerke hoch, dazwischen viel Platz, Grünflächen, Spielplätze, Supermärkte, Beton. Und die Trambahn. Hier zogen Mitte Juli mehrere hundert Menschen durch die Straßen, vorbei an den Hochhäusern, machten Musik, feierten. Rund die Hälfte von ihnen war russischsprachig. Viktoria war eine von ihnen.
"Das war richtig schön. Ich habe wirklich keine Aggressivität beobachtet. Die Menschen waren entweder interessiert, neugierig oder sogar freundlich, haben aus den Fenstern geguckt. Und die Community an sich war mega. Ich dachte, ich bin irgendwo auf einem anderen Planeten. Und es ging um Wesentliches, um Liebe, sag ich mal, darum, offen zu leben, was man wirklich ist und wie man sich empfindet und sieht. Das hat mich überwältigt."

Wenige Treffpunkte für lesbische Frauen

Viktoria, Anfang 40, wohnt in Marzahn-Hellersdorf. Sie kam vor 20 Jahren aus der Ukraine nach Deutschland, war hier mit einem Mann verheiratet. Aus Angst vor ihm möchte sie ihren Nachnamen für sich behalten. Inzwischen hat sie in eine feste Beziehung mit einer Frau. Sie fühle sich wohl in Marzahn-Hellersdorf, sagt sie, aber: "Es gibt wirklich gar keine Infrastruktur für lesbische Frauen in Marzahn-Hellersdorf, da kenne ich keine. Ich würde es sehr gut finden, wenn es irgendein Café gäbe, dass man Bier trinken kann, Kaffee."
Den ersten Schritt dazu hat sie selbst getan. Viktoria engagiert sich im Frauentreff Hellma in Marzahn-Hellersdorf. In den schmucklosen Räumen im Erdgeschoss eines Plattenbaus sind Tische zusammengeschoben. An den Wänden hängen Fotos afrikanischer Frauen. Drei Rentnerinnen spielen Karten. Viktoria studiert Sozialarbeit. Sie hat hier ein Praktikum gemacht. Dabei entstand die Idee, einen Treff für lesbische Frauen zu gründen. Sie treffen sich einmal die Woche in zwei Gruppen: Die eine spricht Deutsch, die andere Russisch.
"Das sind neue Projekte. Wir hoffen, dass sie wirklich den Frauen Raum bieten, überhaupt die Themen anzusprechen und sich irgendwo angenommen zu fühlen und ohne Angst wirklich unter sich zu sein." Sabine Krusen, die Leiterin von Hellma, nickt. Sie hat schon vor Jahren in den Räumen des Frauentreffs Fotos lesbischer Frauen ausgestellt.
"Mir ist aufgefallen, dass die meisten Stammbesucherinnen schlichtweg gar nichts davon wussten. Die Reaktion war etwas schockiert, so: Was soll denn das Thema? Was haben denn wir damit zu tun. Und es gibt auch heute noch welche, die sich wundern, warum wir jetzt diese Gruppen haben. So nach dem Motto: Braucht man die denn? Und wo wir sagen: Ja, ihr vielleicht dann nicht, aber, ja, offensichtlich."

Vorurteile und Vorbehalte

Viktoria erzählt, unter ihren russischsprachigen Bekannten seien die Vorbehalte gegenüber Homosexuellen besonders groß. "Eine Bekannte von mir, die erfahren hat, dass hier so eine Gruppe aufgebaut wird für lesbische Frauen, hat sie ganz vorsichtig gefragt: Sag mal, aber da wird doch nicht nur über Sex gesprochen? Und was macht ihr da? Ist da Gruppensex oder was läuft da ab? Ja, die haben da ein Kopfkino irgendwie."
Demnächst soll es bei den Lesbentreffs auch eine Disko geben, mit einer professionellen Musikerin. Sie heißt Sviatlana Paklina und stammt aus Belarus. Dort ist sie unter ihrem Künstlernamen Lazma bekannt. Sie kam 2009 zum Studium nach Deutschland.
"Und mit der Zeit habe ich meinen guten Freunden in Weißrussland erzählt, dass ich Frauen mag und wie ich lebe, und ich habe fast alle Menschen verloren. Ich habe auch meinen Eltern erzählt über mich, und sie wollen das auch nicht akzeptieren. Wenn ich nach Weißrussland fahre, muss ich lügen. Ich habe extra auch Kleider, so einen extra Schrank. Dann zieh ich mich um. Und wenn ich nach Berlin komme, dann fühle ich mich wohl. Ich kann anziehen, was ich möchte, meine Haare stylen, wie ich möchte. Mit Frauen Hand in Hand spazieren gehen, wenn ich möchte. Einfach Mensch sein! In meinem Land ist es unmöglich, auch wie ich aussehe, mit kurzen Haaren. Und ich bin sehr glücklich und dankbar, dass ich in Deutschland so sein kann wie ich bin. Ich schätze das sehr. Dankeschön Deutschland!"

Aufklärungsarbeit lohnt sich

Sviatlana Paklina wohnt gleichfalls in Marzahn-Hellersdorf. An der Pride-Parade hat sie allerdings nicht teilgenommen. "Was machen wir hier, diese Demo? Wir trinken. Da sind komische Männer in Slips oder so, die fast nackt rumlaufen. Und was wollen wir damit zeigen? Das ist nur eine Party für Menschen, die hierher kommen. Statt Demo ich höre sehr gern traurige Geschichten von Lesben aus Weißrussland und versuche, psychisch zu unterstützen, Ratschläge zu geben oder Mut zu geben. Alles wird gut. Statt zur Demo hierher zu kommen, Alkohol zu trinken."
Konstantin Sherstyuk, der Organisator der Pride, sieht das anders. Er holt sein Mobiltelefon hervor, zeigt eine Nachricht. Eine Bezirksverordnete aus Marzahn-Hellersdorf hat ihn zu einer Ausschusssitzung eingeladen. Die Politiker wollen über Gewalt gegen Homosexuelle in dem Bezirk sprechen. Für Sherstyuk ein Beleg dafür, dass sich die Aufklärungsarbeit lohnt. "Das war auch unser Ziel, Stereotypen abzubauen, Stereotypen über LGBT-Menschen. Und das ist uns zum Großteil gelungen."
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