Russen in Deutschland

Leben zwischen alter und neuer Heimat

Russisches Spezialitätengeschäft in Ludwigsburg
Russisches Spezialitätengeschäft in Ludwigsburg © picture alliance / dpa / Christoph Schmidt
Von Gesine Dornblüth und Thomas Franke · 07.05.2018
In Deutschland leben etwa sechs Millionen russischsprachige Menschen. Die größte Gruppe unter ihnen bilden die Russlanddeutschen. Sie gelten als konservativ, sind meist gut ausgebildet und integriert. Von der Politik wurden sie bislang wenig beachtet – bis zu den Wahlerfolgen der AfD.
Durch Hildesheim fährt ein Mann auf seinem Rad, der ist bekannt wie ein bunter Hund, denn er radelt immer mit freiem Oberkörper.
"Hallo. Valentin Mutig. So bin ich schon 42 Jahre unterwegs, ob Sommer oder Winter, am 14. April '76 bei schwerer Krankheit alle Medikamente weggeworfen... Nur noch mit freiem Oberkörper..."
Er lehnt sein Fahrrad an eine Brüstung, ohne es abzuschließen.
"Alles aus dem Sperrmüll. Wenn es weg ist, freut man sich ja! Wenn es weg ist, ist es weg..."
Seine Brust ist breit, kräftig und grau behaart. Er zieht sich ein blaues T-Shirt über. Valentin Mutig arbeitet als Physiotherapeut. Heute ist er in einem Haus für betreutes Wohnen.
"Ich bin der heilige Valentin. Und mein Spitzname ist 'Der Prediger'. Und deswegen predige ich den ganzen Tag. Was betrifft Gesundheit, Gerechtigkeit, Freundschaft. Was für das Leben wichtig ist. Und ich bin auch sehr stolz, dass man mich kennt hier in Hildesheim!"
Die alten Menschen lieben ihn: "Er bringt die Leute wieder in Gang", sagen sie. Valentin Mutig ist 66 Jahre alt, Russlanddeutscher.
"Unsere Großmutter hat immer gesagt: Kinder, wir haben das Glück nicht, aber eines Tages werdet ihr bestimmt das Glück haben, dass ihr wieder zurückkehrt nach Hause."

Schikane in der Sowjetunion

Nach Hause, das hieß für die Russlanddeutschen nach Deutschland. Die Sowjetunion hat sie lange Zeit nicht ausreisen lassen. In der Sowjetunion wurden sie diskriminiert.
"Zum Beispiel: Ich wollte auch mal Offizier werden. Aber als Deutscher durfte ich diesen Beruf nicht ausüben. Das wurde nicht so direkt gesagt. Ich hatte einen guten Schulabschluss, vom Gesundheitszustand war ich auch ziemlich gut, und dann, als ich mich zum ersten Mal beworben habe, hat man mich abgewiesen, hat man gesagt, ich war ein bisschen kleinwüchsig, also, ich tauge nichts. Ich wollte in eine Panzermilitärhochschule gehen. Und als Kleiner war man eigentlich geeignet, aber mich und meinen Cousin hat man abgewiesen. Solche Dinge."
Mutig hält inne:
"Soll ich singen? Das ist kein Lied, ein Gedicht in zwölf Strophen hat es. Es wurde von einem unbekannten Deutschen geschrieben, in Kasachstan oder in Russland. Wurde von Hand zu Hand gegeben. Bestimmt ist er auch schon hier in Deutschland. Das ist die Geschichte über uns Aussiedler."
"Wir sind Fremde hier und dort
Aber wir sind Deutsche
Und uns ist nicht alles egal
Russland hat uns Geduld gelehrt
Aber die hat ein Ende."
"In der Sowjetunion haben wir uns ein bisschen fremd gefühlt, und auch hier jetzt in Deutschland fühlt man sich, die meisten Aussiedler, auch ein bisschen fremd."

"Man stößt immer gegen eine Wand"

Heimatlos. 1999 kam Mutig aus Kasachstan. Dort war er Arzt, hat eine Rettungsstation geleitet. In Deutschland wurde sein Abschluss, wie es so oft der Fall ist bei Akademikern aus der früheren Sowjetunion, nicht anerkannt. Um seinen Beruf als Arzt ausüben zu können, hätte er ein einjähriges Praktikum in einem deutschen Krankenhaus machen müssen. Mutig bewarb sich dafür um ein Förderstipendium.
"Da hab ich einen Brief erhalten: Herr Mutig, es tut uns leid, wir können Sie nicht unterstützen. Weil, ich war schon in diesem Alter, noch paar Monate waren bis 50, und die betreuen nur die Menschen bis 50."
Er begann eine Ausbildung zum Krankenpfleger in einem städtischen Krankenhaus:
"Nach einem halben Jahr hat man mich gekündigt. Herr Mutig, Sie sind überqualifiziert."
Mutig arbeitete bei einem Wachdienst, trug Zeitungen aus.
"Man ist wie vor einer Wand. Man stößt immer gegen eine Wand, hier und hier, bis man den Ausgang findet."
Den fand er erst mit 60. Endlich bekam Mutig einen Platz in einer Schule für Physiotherapie. Er hatte zeitweise zehn Nebenjobs, um die Ausbildung zu finanzieren. Mittlerweile behandelt er nicht nur, er unterrichtet.
Schätzungen zufolge leben in der Bundesrepublik etwa sechs Millionen russischsprachige Menschen. Sie sind aus unterschiedlichsten Gründen nach Deutschland gekommen, um zu bleiben. Darunter sind viele Ingenieure, Literaten, Partyvolk. Szenetypen kommen und Studenten, Homosexuelle fliehen vor Diskriminierung, andere kommen nach Deutschland, weil ihre Verwandten hier sind und sie die Freiheit schätzen, andere, damit ihre Kinder vernünftig ausgebildet werden. Und sie kommen natürlich auch der Liebe wegen.
Die größte Gruppe aber sind Russlanddeutsche. Laut Bundesamt für Migration und Flüchtlinge sind seit 1950 4,5 Millionen Spätaussiedler in die Bundesrepublik Deutschland gekommen. Die meisten aus der Sowjetunion, aus Russland, der Ukraine und Kasachstan.
Der größte Teil kam in den 1990er-Jahren, fast zwei Millionen. Eine weitere große Gruppe russischsprachiger Zuwanderer sind sogenannte Kontingentflüchtlinge, Juden aus der früheren Sowjetunion.

Konservativ, gut ausgebildet, unauffällig

Von den russischsprachigen, die in Deutschland leben, sind aber die Russlanddeutschen die größte Gruppe. Sie haben sich vor allem in Nordrhein-Westfalen, Baden-Württemberg, Niedersachsen und Bayern niedergelassen.
Sie gelten als eher konservativ, und ihnen ist die Familie sehr wichtig. Im Vergleich zu anderen Zuwanderern sind sie gut ausgebildet und selten arbeitslos. Sie fallen kaum auf. Nur die Älteren von ihnen erkennt man oft noch am Akzent.
"Ich habe meinen Kindern gesagt: Wenn ihr erfolgreich sein wollt, dann müsst ihr die deutsche Sprache lernen. Wenn man sich vollständig integrieren will, dann sage ich immer: Sprache, Geschichte, Land und Leute kennenlernen. Anders geht es nicht."
Mutigs Kinder haben es geschafft. Sein ältester Sohn leitet das Institut für Vegetative Anatomie an der Berliner Charité, sein zweiter Sohn ist Physiker und seine Tochter Ärztin an der Medizinischen Hochschule Hannover.
Wie viele Aussiedler so erfolgreich sind, lässt sich kaum sagen. Russischsprachige in Deutschland sind wenig erforscht, erläutert Julius Freytag von Loringhoven von der Boris-Nemzow-Stiftung. Die Stiftung beschäftigt sich unter anderem mit russischsprachigen Migranten in Deutschland.
Eine Wahlkampfbroschüre der Alternative für Deutschland (AFD) für die Abgeordnetenhauswahl in den Sprachen deutsch und russisch.
Eine Wahlkampfbroschüre der Alternative für Deutschland (AFD) für die Abgeordnetenhauswahl in den Sprachen deutsch und russisch.© picture alliance / dpa / Kay Nietfeld
"Vor allem gab's zuerst keinen politischen Willen und kein Interesse an dieser russischsprachigen Bevölkerung in Deutschland, weil die relativ gut integriert sind, auf der Straße nicht sofort sichtbar sind, in der Regel besser ausgebildet sind als durchschnittliche andere Einwanderungsgruppen und deswegen einfach nicht auffallen. Und deswegen hat sich auch die Politik nicht in besonderem Maße um sie gekümmert und genauso wenig die Demoskopen."

Erfundene Vergewaltigung treibt die Russlanddeutschen um

Russlanddeutsche sind in den letzten Monaten in Verruf geraten. Einige von ihnen fielen durch rechtsextreme Positionen auf. Besonders Anfang 2016. Da machten Gerüchte über eine angebliche Vergewaltigung des russlanddeutschen Mädchens Lisa die Runde in sozialen Netzwerken. Russlanddeutsche riefen zu Demonstrationen auf:
"Unsere Kinder sind in Gefahr, Lisa, wir sind mit dir!"
... hieß es. Die russische Regierung und ihre Propaganda begannen, gegen Flüchtlinge in Deutschland zu hetzen. Über Wochen gingen russischsprachige Migranten auf die Straße. Später stellte sich heraus, dass die Vergewaltigung erfunden war. Der Ruf, insbesondere der Russlanddeutschen, war ruiniert.
Seitdem wird den Russlanddeutschen eine besondere Nähe zur AfD nachgesagt. Im Umfeld der Bundestagswahl haben mehrere Aussiedlervereine, darunter die Vereinigung zur Integration der Russlanddeutschen Aussiedler (VIRA), einen offenen Brief an Politik und Medien veröffentlicht, in dem sie sich gegen pauschale Vorverurteilungen wehren:
"Wir sind nicht die AfD, nicht die CDU, nicht die fünfte Kolonne Putins! Wir sind genau so individuell wie alle andere Bürgerinnen und Bürger unseres Landes!"
Russlanddeutsche sind heute tatsächlich nicht mehr so einfach einer Partei zuzuordnen wie früher, als bis zu zwei Drittel von ihnen mit den Unionsparteien sympathisierten, erläutert Julius Freytag von Loringhoven. Er bezieht sich auf eine Studie der Universitäten Duisburg-Essen und Köln zur Bundestagswahl 2017.
"Die Abweichungen von den durchschnittlichen Wählern in der russischsprachigen Bevölkerung ist gar nicht so groß wie behauptet wird; nach dieser einen Umfrage haben nur 15 Prozent der Russischsprachigen in Deutschland zum Beispiel AfD gewählt, das ist ungefähr vergleichbar mit dem Rest der Bevölkerung, den einzigen Ausschläger gab's, dass es fast 21 Prozent Befürwortung für die Linke gab und niedrigere für die SPD, aber zum Beispiel die Unterstützung von CDU oder auch von der FDP sind genauso groß wie im Rest der Bevölkerung."

Viele kehren dem autoritären Russland den Rücken

Derzeit haben wir es mit einer neuen Welle von Migration aus Russland zu tun, erzählt Freytag von Loringhoven:
"Das Interessante ist, dass die neueste Einwanderungswelle, gerade in Berlin, relativ auffällig ist aus der, sagen wir mal, sogenannten Intelligenzija aus den russischen Großstädten. Das heißt, es sind nicht mehr die Russlanddeutschen, die in der ökonomischen Not der 90er-Jahre Kasachstan und Sibirien verlassen haben, um praktisch aus ihrer Sicht vielleicht sogar heimzukehren nach Deutschland, sondern das sind inzwischen sehr viele russische Intellektuelle, Journalisten, Geisteswissenschaftler, Volkswirte, die unter dem immer autoritärer werdenden Regime in Russland keine weiteren Chancen sehen.
Yuriy Gurzhy (l) und der Autor Wladimir Kaminer legen auf ihrer Partyreihe "Russendisko" in Berlin auf
Yuriy Gurzhy (l) und der Autor Wladimir Kaminer legen auf ihrer Partyreihe "Russendisko" in Berlin auf© picture alliance / dpa / Jörg Carstensen
Und für die wird Berlin ein Ort, in dem es viele Russischsprachige gibt, in dem sie sich zuhause fühlen können, in dem sie freier leben, arbeiten, handeln können. Und das ist ein ganz neuer Trend eigentlich."
Das Restaurant Kvartira 62 im Touristenbezirk Berlin-Kreuzberg.
"Artjom, priviet. Er ist schon lange hier in Deutschland. Wann bist du gekommen, 83?"
Alexander Grüner steht am Tresen und schaut Bestelllisten durch. Grüner hat das Kvartira 62 vor zehn Jahren eröffnet. Als er 1999 mit seinen Eltern aus Jekaterinburg kam, war er 17 Jahre alt.
"Es sind viele, viele russische Leute gekommen durch die politische Lage nach Berlin. Das ist der einzige Vorteil am System in Russland, dass ich mehr russische gute Leute hier habe in Berlin."
Die Kellnerin trägt einen Teller mit eingelegtem Gemüse durch den Raum. Es riecht säuerlich.
"Ich glaube, es ist alles hip, was lecker ist. Man muss halt gut machen, dann kommen die Leute wieder."
Auf die Holztische hat jemand russische Verse geschrieben, an der Wand hängen Plakate von russischen Konzerten. Es gibt Pelmeni und Borschtsch, Tee und viele Sorten Wodka. An einem der Tische sitzt Dmitri Schalabajew aus Jakutien im Fernen Osten.
"Ich bin 2010 gekommen. Ich wurde 2009 von der Krise in Russland erwischt und entlassen. Dann fand ich Arbeit, aber mit der war ich nicht zufrieden. Da meine Schwester schon lange hier war, bin ich oft hierhergefahren. Irgendwann sprachen wir mal über Bildung und ich habe erfahren, dass ein Studium in Deutschland auch für Ausländer fast nichts kostet. Es ist nicht umsonst, aber im Vergleich zu den Preisen weltweit ist das wie ein Tropfen im Meer."
Zurzeit studieren etwa 60.000 Russen im Ausland, etwa 10.000 davon in Deutschland. Das sind mehr als doppelt so viele wie in Großbritannien, Frankreich oder den USA.
"Ich bin eigentlich immer noch Student, aber … naja, ich muss nur noch die Abschlussarbeit schreiben."
Schalabajew ist 36 Jahre alt, hat zwei Kinder. Sein Geld verdient er mit Bikesharing, dem Verleih von Fahrrädern.
"Ich halte Berlin nicht für die schönste Stadt. Wahrlich nicht. Berlin hat sich meine Liebe eher erkämpft, weil es hier Trash, Chaos und so weiter gibt. Aber ich fühle mich hier sehr wohl. Meine Lebensweise entspricht Berlin: Ich fahre Fahrrad, habe Familie."
Alexander Grüner nickt. Sein Personal spricht Russisch, kommt aber nur zum Teil aus Russland.
"Maria zum Beispiel, die kommt aus Tel Aviv. Und dann hab ich aus Litauen zwei Frauen. Dann hab ich auch Jekaterinburg Alexander, der auch Alexander heißt. Ja, es ist gemischt. Ich hab auch Chile, aus Argentinien einen."

"Die Russen können sich sehr gut anpassen"

Die Jungen, die jetzt kommen, werden gerade in Berlin von der Partyszene angezogen. Die Älteren haben eine andere Lebenseinstellung. Sie sind längst sesshaft, haben häufig Lauben in Kleingartensiedlungen, verbringen viel Freizeit im Kreis der Familie, ihre Kinder und Enkelkinder sprechen akzentfrei Deutsch. Grüner stimmt zu:
"Ja, die passen super. Also die Russen können sich sehr gut anpassen und sehr gut sich adaptieren, selbst verwirklichen und realisieren. Durch die harte Schule halt, was man so da mitnimmt. Es ist hier leichter zu leben. Auf jeden Fall. Ich fühl mich ganz wohl in Berlin und in Deutschland und ich kann auch viele Sachen machen und ich fühl mich auch frei."
Wer in Russland oder der Sowjetunion aufgewachsen ist, ist oft fleißig, leidensfähig und bescheiden. Viele arbeiten in Deutschland unter ihrer Qualifikation. Andere nutzen die unternehmerische Freiheit und betreiben eigene Geschäfte. Aufgrund ihrer Erfahrungen schätzen sie meist den Rechtsstaat und die demokratischen Institutionen.
"Bestimmt ist einer zuhause! Die Menschen haben wahrscheinlich Mittagspause."
Im Betreuten Wohnen in Hildesheim klingelt Valentin Mutig an einer Wohnungstür. In dem Heim leben fast ausschließlich alte Menschen, die in Deutschland geboren wurden.
"Hallo! Guten Tag, na?"
"Das ist aber nett, dass Sie das gemacht haben."
"Dürfen wir rein? "
"Aber hallo, natürlich."
"Man hat gesagt, Sie brauchen Hilfe. Als Physiotherapeut bin ich ja da... "
"Kommen Sie rein..."
An anderen Tagen macht Mutig auch Hausbesuche bei Spätaussiedlern.
"Du kommst rein, läuft immer russisches Fernsehen."

Verklärter Blick auf die alte Heimat

Wer russisches Fernsehen schaut, bekommt einen von Propaganda gefilterten Blick auf die Welt. Da wird Putin als "Führer" bezeichnet, die Krim war schon immer russisch und Stalin war ein Held. Die kritische Berichterstattung deutscher Medien über Russland tue vielen Russlanddeutschen weh, sagt Mutig.
"Die Russen sagen: Ne pljuj v kolodez prigoditsja vodiza napit'sja. Spuck nicht in den Brunnen. Es kann sein, dass du aus dem Brunnen Wasser trinken wirst. Wenn man 50 Jahre dort verbracht hat, in der Sowjetunion, wissen Sie: Kaum einziger wird in diesen Brunnen spucken. Man hat mit den Menschen zusammengewohnt, zusammengearbeitet..."
Das führe oft zu einem verklärten Blick auf die alte Heimat, erläutert Julius Freytag von Loringhoven von der Nemzow-Stiftung. Und es gehe um nostalgische Verklärung:
"Die gute alte Zeit der Sowjetunion. Und da gibt's eben auch in dem schlechter integrierten Teil der russischsprachigen Bevölkerung starke Tendenzen. Aber ich muss dazu eindeutig betonen, dass das eine Minderheit ist."
70 Prozent der russischsprachigen Bevölkerung seien gut integriert, führt Freytag von Loringhoven aus. Er beziffert die Gruppe derer, die nicht gut Deutsch sprechen auf 30 Prozent:
"Und das sind die gleichen 30 Prozent, die vorwiegend im Internet und im Fernsehen russische Medien konsumieren, und die haben auch stärker abweichende Wertevorstellungen vom Rest der russischsprachigen, eigentlich sehr gut integrierten Bevölkerung.
Das heißt, bei denen ist größere Ablehnung gegenüber Flüchtlingen, die haben größere Unterstützung für die Politik des russischen Präsidenten, die aggressive Außenpolitik. Und die sind eben auch, was ihre Toleranz gegenüber Homosexualität oder gegenüber anderen Minderheiten betrifft, etwas unter dem Durchschnitt."
Hier setzt der Berliner Bezahlsender RTVD Ost West an.
Die Journalistin Olga Romanowa
Die Journalistin Olga Romanowa© picture alliance / dpa / Dzhavakhadze Zurab
Der Bildschirm ist lila. Im Zentrum vier Buchstaben: RTVD. Dann drehen sie sich und nun steht da Ost-West. Hartgeschnittene Bilder: Putin, Trump, Macron, Raketen, Eisläufer, ein Berliner S-Bahnhof.
Ein Schnitt ins Studio. In roten Sesseln die beiden Frontfrauen dieses russischsprachigen Fernsehens in Deutschland: Olga Romanowa und die Chefredakteurin Marija Makejewa.
"Oft wird gefragt, wie kann es sein, dass die Leute nach Deutschland emigriert sind und immer noch russisches Fernsehen gucken? Die Leute wollen sich einfach ein bisschen heimisch fühlen, unter ihresgleichen. Vom menschlichen Standpunkt aus ist das verständlich.
Unsere Aufgabe ist, ihnen die Möglichkeit zu geben, die russische Sprache zu nutzen, sich unter ihresgleichen zu fühlen im weiteren Sinne und zugleich zu fühlen, dass sie in Europa leben. Also informiert zu werden darüber, was um sie herum passiert. Damit es keine Blase gibt, in der die Leute leben, damit sie sich glücklich fühlen."

Kremlkritischer Sender aus Deutschland

RTVD sendet täglich 20 Minuten Nachrichten, dazu Kommentare und Diskussionen. Ansonsten laufen russische Spiel- und Dokumentarfilme, Shows und Theateraufzeichnungen. Der Grundton ist kremlkritisch. RTVD gehört einem Unternehmer, der bereits zum Ende der Sowjetunion aus Charkiw in der heutigen Ukraine nach Berlin übersiedelte. Das Budget ist knapp. RTVD improvisiert.
Olga Romanowa ist neu im Team von RTVD. Die in Russland bekannte Menschenrechtsaktivistin und Journalistin ist im letzten Jahr nach Berlin gekommen, weil sie in Moskau verfolgt wurde.
"Ich hatte anfangs große Angst, hier zu sagen, was ich wirklich denke. Besonders im Hinblick auf die Ukraine. Und als ich entdeckte, dass wir gleich denken, dass wir sehr ähnliche Positionen in vielen Fragen haben, wurde es viel einfacher für mich. Dass ich keine Angst zu haben brauche, wenn ich mit Russischsprachigen rede, dass wir reden können, hier. Selbst die Maskenbildnerin, die Assistentin, der Kameramann, der Tonmann sind vor allem Ukrainer oder Israelis mit russischer Sprache. Und wir denken gleich."
Autoritäre Regime leben davon, dass die Menschen Angst haben. Und die Regierung von Wladimir Putin beherrscht das meisterlich:
"Ich habe schon Bekanntschaft mit der Berliner Polizei gemacht. Ich muss mich erst noch daran gewöhnen, dass ich vor ihr keine Angst haben muss. Und wissen Sie, ich habe auf einmal entdeckt, dass ich absolut keine Ahnung hatte, was eigentlich Freiheit ist. Ich habe immer davon geredet: Wir sind für Freiheit, aber ich hatte eigentlich gar keine richtige Ahnung davon. Jetzt sehe ich: Freiheit ist nicht nur das Gefühl, dass du durch die Straßen gehen kannst, ohne Angst vor der Polizei zu haben; es ist auch der Obdachlose, der in meinem Kiez wohnt."
Ihre Mutter sei zu Besuch gewesen und habe sich gewundert.
"Sie hat mich gefragt: Warum nimmt die Polizei ihn nicht mit? Ich habe ihr erklärt: Warum sollte sie ihn mitnehmen? Man darf ihn nicht einfach mitnehmen. Ich glaube, meine Mutter hat das nicht begriffen. Und auch für mich war es schwer, das anzunehmen."
Chefredakteurin Makejewa hat bereits in Moskau den kremlkritischen Internetsender TV Doschd mit aufgebaut und ist es gewöhnt, mit wenig Geld auszukommen.
Dann nahm sie sich eine Auszeit, wollte mal ausspannen. Das Angebot aus Berlin kam unerwartet, zu Deutschland hatte sie keinerlei Beziehung. RTVD erreiche etwa 100.000 Haushalte, erzählt Makejewa.
"Wir müssen unser Publikum mit all seinen Schichten erst noch kennenlernen. Das ist absolut nicht homogen."
Chefredakteurin Makejewa möchte die unterschiedlichen russischsprachigen Bevölkerungsgruppen miteinander ins Gespräch bringen – es werde zu wenig miteinander geredet.
"Wir brauchen nicht nur viele Sendeflächen, sondern wir müssen auch viel offline machen. Es ist ein großer Fehler, dass bisher nur AfD mit russischsprachigen Wählern gearbeitet hat, und keine andere Partei.
Es dürfen aber nicht nur langweilige, brave Diskussionen sein, sondern wir müssen dort kontroverse Fragen stellen. Zum Beispiel: Hat es sich für Russland gelohnt, die Krim zu annektieren, hat Russland damit Recht? Sollen doch russischsprachige Deutsche und Sachsen darüber diskutieren."
Andrej Zajzew vor seinem Wohnhaus in Cottbus.
Andrej Zajzew vor seinem Wohnhaus in Cottbus.© Deutschlandradio / Gesine Dornblüth
Einer, der ständig mit anderen diskutiert, ist Andrej Zajzew.
"Viele Leute, unter anderem in Ostdeutschland, sind überzeugt, dass in Russland echte Demokratie herrscht. Ich habe oft Losungen auch von Russlanddeutschen gesehen mit der Bitte: 'Putin, bring Truppen nach Deutschland'. 'Putin, sorg hier für Ordnung'. Ich habe den Eindruck, die Leute verstehen einfach nicht, wer Putin ist, und was in Russland vor sich geht. Wir wollen davon erzählen am Beispiel, warum die Menschen Russland verlassen."

Von der Richterin vorverurteilt

Andrej Zajzew ist auf dem Heimweg nach Cottbus. Tagsüber war er in Berlin, hat dort Gleichgesinnte getroffen. Zajzew ist anerkannter politischer Flüchtling. Er kam 2016 aus Brjansk, einer Kleinstadt 5 Autostunden südwestlich von Moskau. Zajzew ist Unternehmer und war politisch aktiv, hat Abgeordneten Korruption nachgewiesen. Wiederholt wurde gegen ihn ermittelt. Zuletzt ließ er, wenn er in Brjansk unterwegs war, das Mikrofon seines Telefons mitlaufen. Bei seiner letzten Festnahme wurde ihm das Handy abgenommen. Später bekam er es wieder und er hörte die Aufnahmen an.
"Da waren Gespräche der Polizisten mit der Richterin darüber, mich festzusetzen. Die Richterin hat gesagt: Bringt ihn her, wir verurteilen ihn auf jeden Fall. Es gab schon vor dem Gerichtsverfahren eine Vereinbarung, dass wir verurteilt werden, das ist das erste. Und sie haben auch geplant, dass, wenn wir nicht verurteilt werden, sie meinem Kollegen das Knie zerschlagen, dass sie mich töten und die Ermittlungen ins Leere laufen lassen. Sie haben meinen Mord geplant."
Um Abstand zu gewinnen, fuhr er mit seiner Frau und den zwei kleinen Kindern in den Urlaub nach Europa, sie waren gerade unterwegs mit dem Mietwagen von Deutschland nach Paris, da rief sein Bruder an. Die Polizei sei da gewesen. Da er wusste, dass es in Russland keinen fairen Prozess geben wird, blieb Zajzew in Deutschland, beantragte Asyl.
Der Zug hält in einem Außenbezirk von Cottbus.
Zajzew geht durch eine lange Unterführung. Vierstöckige Mietshäuser aus den 70er-Jahren. Parkplätze vor den Häusern. Das Grün an den Hecken ist noch frisch. Auf der Straße ist niemand zu sehen.
"Im Erdgeschoss wohnt ein Nachbar, der uns hasst, unsere Familie, weil wir Ausländer sind. Er sagt immer wieder: 'Muss raus'."
Zajzew lebt mit seiner Familie im vierten Stock. Die Wohnung ist geräumig. 4 Zimmer, Wohnküche. Spielzeug liegt rum, die Kinder haben ein kleines Zelt aufgebaut. Im Wohnzimmer eine Sitzgarnitur. Zajzew ist freiwillig nach Cottbus gezogen.
"Mir gefällt es hier mit einer Ausnahme: Die Liebe eines großen Teils der Bevölkerung von Cottbus zum Nationalismus. Moralisch habe ich nicht das Recht, mich in die deutsche Gesellschaft einzumischen. Ich bin hier Gast, ich achte dieses Land und die Traditionen in Deutschland. Aber dessen ungeachtet halte ich Nationalismus für irrational und falsch."

Überzeugungsarbeit

Und in dem Punkt will er sich eben doch einmischen. Zajzew möchte einen Diskussionsclub gründen. Er ist sich sicher, dass er Menschen im Gespräch überzeugen kann.
"Ich habe bereits einen vollen Sieg und es gibt mehrere nicht abgeschlossene Stadien. Ich beginne mit der Frage, wem die Krim gehört. Wenn einer antwortet, die Krim gehört Russland, dann mache ich ein Psychogramm des Menschen, mit dem ich es zu tun habe. Wenn derjenige am Ende zustimmt, dass die Krim der Ukraine gehört, dann ist das ein Erfolg, denn von dem Moment beginnt er, kritisch auf die russischen Medien zu schauen, und er beginnt, alternative Informationen zu suchen zu Russia Today, dem Ersten Kanal, NTW und den anderen.
Einer hat mich angerufen und gesagt: Aaaah, Andrej, kannst du dir vorstellen, mir haben sie so viele Lügen aufgetischt. Mir gibt das Kraft, denn ich weiß, wenn ich es bei einem geschafft habe, schaffe ich es auch bei anderen."
Zajzew ist nicht nach Deutschland gekommen, um zu bleiben. Er möchte zurück nach Russland und dort für Demokratie kämpfen.
"Ich liebe Russland. Ich möchte dort sterben, dort leben. Meine Ausreise habe ich vor meinen Freunden lange verheimlicht, ich habe mich geschämt für meine Entscheidung. Und erst am 18. März, am Wahltag, als klar war: In den nächsten 5 bis 6 Jahren wird sich nichts ändern in Russland, war meine Pflicht, den Leuten zu sagen: Man muss dringend wegfahren aus Russland. Es wird jedes Jahr schlimmer werden."
Und dann möchte er noch unbedingt etwas loswerden:
"Die Deutschen haben Meinungsfreiheit, Demokratie und eine entwickelte Wirtschaft. Ich habe noch nicht so viel mit Deutschen geredet, aber mein Eindruck ist: Sie haben aufgehört, dies wertzuschätzen: Meinungsfreiheit und Demokratie. Obwohl der Faschismus noch nicht so lange her ist. Aber ein Sprichwort sagt: An das Gute gewöhnt man sich schnell."
Mehr zum Thema