Rumäniens Weg zur Rechtsstaatlichkeit

Der Gewaltexzess der Bergarbeiter und die juristische Aufarbeitung

Bergarbeiter verprügeln am 18. Juni 1990 auf offener Straße einen Demonstranten in Rumänien
Bergarbeiter verprügeln am 18. Juni 1990 auf offener Straße einen Demonstranten. © picture alliance / dpa / AFP
Von Keno Verseck · 10.06.2015
Nach Unruhen in Bukarest 1990 kamen Bergleute aus den rumänischen Kohlerevieren dem damaligen Präsidenten Ion Iliescu zu Hilfe: Sie gingen mit Eisenstangen gegen Demonstranten vor. Damals wurde niemand wegen der Gewaltexzesse zur Rechenschaft gezogen - das soll nachgeholt werden.
An einem kühlen Frühjahrsmorgen steht Viorel Ene auf dem Bukarester Platz der Verfassung – vor dem Gebäude der rumänischen Generalstaatsanwaltschaft wartet er auf Einlass. Den riesigen, halbkreisförmigen Platz hatte der Diktator Nicolae Ceausescu einst für Aufmärsche bauen lassen – vor seinem gigantomanischen Palast, genannt "Haus des Volkes", es ist das zweitgrößte Gebäude der Welt, heute Sitz des rumänischen Parlamentes.
Als die Rumänen den größenwahnsinnigen Diktator im Dezember 1989 stürzten, war Viorel Ene 37 Jahre alt und arbeitete in Bukarest als Ingenieur für Wasserwirtschaft. Begeistert nahm er über Monate hinweg an antikommunistischen Demonstrationen teil. Dafür riskierte er sein Leben.
Viorel Ene: "Am Morgen des 14. Juni ging ich zur Arbeit, zum Institut für hydroenergetische Studien und Planungen. Zusammen mit einigen Kollegen kamen wir aus der Metrostation am Universitätsplatz. Ich sah sehr viele Bergarbeiter. Sie hielten uns an und kontrollierten unsere Ausweise. In diesem Augenblick sagte ein Mann in Zivil, dass ich auch zu den antikommunistischen Demonstranten gehört hätte. Das war das Signal für die Bergarbeiter. Sie schlugen mich mit Knüppeln und Stangen auf den Kopf. Ich verlor zeitweilig das Bewusstsein, blutete sehr stark und war schließlich auf einer Körperseite gelähmt. Sie banden mir die Hände zusammen und schleiften mich auf die Terrasse vor dem Nationaltheater."
Die Bergarbeiter handeln wie befohlen
Rückblick: Bukarest im Frühjahr 1990: Monatelang demonstrieren tausende von Menschen im Zentrum der rumänischen Hauptstadt, auf dem Universitätsplatz, gegen die wendekommunistischen Machthaber. An ihrer Spitze steht Ion Iliescu, einst Zögling Ceausescus, dann in Ungnade gefallen, nun provisorischer Staatschef. Im Mai 1990 wird Iliescu mit großer Mehrheit zum Staatspräsidenten gewählt. Das, so glaubt er, gibt ihm die Legitimation, die Proteste gegen ihn gewaltsam beenden zu lassen.
Am 14. Juni 1990 kommen tausende Bergarbeiter aus dem westrumänischen Schiltal nach Bukarest, Iliescu fordert sie auf, den Universitätsplatz zurückzuerobern. Die Bergarbeiter handeln wie befohlen – und prügeln bestialisch auf alle Menschen ein, die irgendwie studentisch oder intellektuell aussehen. Zugleich werden auch viele Roma, von den Bergarbeitern als Schwarzhändler und Kriminelle betrachtet, Opfer der Gewaltorgie. Es gibt Hunderte Schwerverletzte, auch Viorel Ene ist darunter.
Ene: "Ich war mehr als 90 Tage lang krankgeschrieben und war in drei Krankenhäusern in Bukarest, konnte dort aber nicht richtig behandelt werden. Mit Ach und Krach kam ich im November 1990 nach Deutschland, wo ich Asyl und auch medizinische Hilfe erhielt. Ich war zeitweise halbseitig gelähmt und konnte kaum sprechen. Meine Reflexe sind bis heute eingeschränkt, ich kann kein Auto mehr fahren, habe auch chronische Schmerzen, aber im Unterschied zu vielen anderen meiner Leidensgenossen, die völlig arbeitsunfähig sind, habe ich mehr Glück gehabt."
Bergarbeiterüberfall führte zu einer Emigrationswelle
Der Bergarbeiterüberfall auf Bukarest vom Juni 1990 war ein tiefer Einschnitt in der postkommunistischen Geschichte Rumäniens. Er beendete die Hoffnung auf eine demokratische Entwicklung des Landes für lange Zeit, er führte zu einer Emigrationswelle und nicht zuletzt kostete er Rumänien internationale Sympathien, die das Land nach dem Sturz Ceausescus genossen hatte.
Bis heute ist dieser schlimmste von insgesamt sechs Bergarbeiterüberfällen ein Symbol der nicht aufgearbeiteten kommunistischen und postkommunistischen Vergangenheit: Keiner der Verantwortlichen für die Gewaltorgie wurde bisher zur Rechenschaft gezogen, Ermittlungen wurden mehrmals gestoppt. Doch das soll sich nun, 25 Jahre später, endlich ändern: Anfang März dieses Jahres verfügte die rumänische Generalstaatsanwaltschaft eine Neuaufnahme der Ermittlungen – die politisch Verantwortlichen von damals sollen möglicherweise angeklagt werden, allen voran der ehemalige Staatschef Ion Iliescu. Der gibt sich im Gespräch zutiefst verletzt über das Vorhaben:
Ion Iliescu: "Ich war damals gewählter Staatschef, ich hatte meine Verantwortung und ich tat meine Pflicht, um gemäß meiner Kompetenzen als Staatschef akute Probleme zu lösen. Was die Neuaufnahme von Ermittlungen angeht, so ist längst alles diskutiert worden. Sollen wir jetzt ins Jahr 1990 zurückkehren? Warum? Alles ist längst gelöst – durch den Lauf der Dinge, durch den natürlichen Gang der Geschichte und durch unsere Entwicklung."
Für Viorel Ene hat der Lauf der Dinge nichts gelöst. Sein Leben wäre ohne den Morgen des 14. Juni 1990 anders verlaufen. Er verlor seine Arbeit als Ingenieur, gründete später eine kleine Immobilienfirma und 1997 die "Vereinigung der Opfer der Bergarbeiterüberfälle". Seit damals kämpft er für eine Verurteilung der Verantwortlichen – bisher vergeblich. Auch an diesem kühlen Frühjahrsmorgen erhält er in einem Büro der Generalstaatsanwaltschaft nur eine hinhaltende Botschaft – es dauere noch, bis Ermittlungen aufgenommen würden. Enttäuscht ist Ene nicht. Er glaubt, dass die Staatsanwaltschaft bald mit der Arbeit beginnt.
Ene: "Für uns, die Opfer, bedeuten diese neuen Ermittlungen, jetzt, nach 25 Jahren, dass die Hoffnung zuletzt stirbt. Und für Rumänien bedeuten sie, dass die historische Wahrheit vielleicht endlich offiziell festgestellt wird und die Schuldigen zur Verantwortung gezogen werden."
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