Ruhrgebiet ohne Kohle

Der schwierige Strukturwandel in Gelsenkirchen

Die Fördertürme Schacht 1 und Schacht 2 des ehemaligen Steinkohle-Bergwerks " Zeche Nordstern stehen in Gelsenkirche (Nordrhein-Westfalen) im Stadtteil Horst. Nach der Stilllegung 1982 wurde das Gelände zu einem Landschaftspakt umgewandelt (Nordsternpark) und die Gebäude saniert.
Fördertürme der Zeche Nordstern in Gelsenkirchen: 1982 wurde das Gelände in einen Landschaftspark umgewandelt. © Horst Ossinger /dpa
Von Vivien Leue · 18.12.2018
Früher war das Ruhrgebiet der Wirtschaftsmotor Deutschlands. Heute liegt hier die ärmste Stadt Deutschlands: Gelsenkirchen. Aber es gibt auch Hoffnung: die Westfälische Hochschule bringt junge Menschen nach Gelsenkirchen, neue Unternehmen schaffen Jobs.
"Das ist das Job-Café der Caritas Gelsenkirchen, das Arbeitslosenzentrum." – Oliver Adam zeigt auf mehrere Holztische, die weihnachtlich dekoriert in einem hell erleuchteten Raum stehen. Durch die große Glasscheibe zur Straße hin blicken eine Handvoll Gäste in ein tristes Dezember-Grau. "Egal ob berufstätig, nicht berufstätig, alt, jung, hier kann jeder reinkommen."
Gelsenkirchen gilt als die ärmste Stadt der Bundesrepublik. Etwa jeder vierte Einwohner lebt hier von Hartz IV, bei den Kindern ist es jedes dritte. Es gibt Stadtviertel, da stößt die Arbeitslosenquote an die 30-Prozent-Marke.

"Man hat schon ein bisschen Hoffnungslosigkeit"

"Da sind viele dabei, die früher mal auf der Zeche gearbeitet haben. Viele sind auch, die haben keine Ausbildung gemacht, die machen nur Helferstellen." – Oliver Kerlin sitzt mit seiner Mutter und Freunden an einem Tisch im Job-Café. "Hier sind die Leute nett und die Preise günstiger."
Er ist gerade nicht auf Job-Suche, aber kennt die Probleme der Stadt: "Man hat schon ein bisschen Hoffnungslosigkeit. Bei mir ist es so, dass ich jetzt das erste Mal sagen würde: Ich will aus Gelsenkirchen weg."
Gelsenkirchen ist als Stadt mit heute gut 250.000 Einwohnern erst durch die Kohleförderung entstanden. Zur Blütezeit in den 50er-Jahren gab es hier mehr als ein Dutzend Zechen. Schon in den 60ern begann allerdings der Strukturwandel, nach und nach machten die Zechen dicht, die letzte verschwand vor 20 Jahren.
"Sichtbar in der Stadt wurde es natürlich mit den ersten Brachflächen. Der Bergbau zog sich zurück. Die Stahlindustrie zog sich fast komplett zurück – und was ganz entscheidend war, man hat einzelnen Stadtteilen ihren Mittelpunkt genommen."

"Einzelne Stadtteile gerieten auf die schiefe Ebene"

Frank Baranowski ist seit mittlerweile mehr als 14 Jahren Oberbürgermeister der Stadt und selbst gebürtiger Gelsenkirchener. Er erinnert sich, wie zuerst die Unternehmen weg gingen, dann die umliegenden Geschäfte schlossen und triste Brachflächen entstanden.
"Das führte dazu, dass Menschen dann auch wegzogen, dass wir Leerstände hatten, dass wir so ein Downgrading hatten. Es kamen dann Menschen, die billige Immobilien suchten, und so gingen einzelne Stadtteile… gerieten auf eine schiefe Ebene."

Wieder Arbeitsplätze auf dem alten Zechengelände

Mittlerweile achte die Stadt besser darauf, die alten Zechengelände zügig wieder zu bewirtschaften, und zwar nicht – wie früher – mit einer Tankstelle, einem Fast-Food-Laden oder einem Discounter, sagt der SPD-Politiker.
"Uns ist das ja zum Beispiel in Gelsenkirchen-Horst gelungen auf der Zeche Nordstern wieder bis zu 2000 Menschen zu beschäftigen, und das ist fast so viel wie zu besten Kohlezeiten."
Das Gelände der ehemaligen Zeche Nordstern, die vor mehr als 20 Jahren ihren Betrieb eingestellt hat, beherbergt heute neben einem großen Park mit viel Grün auch ein Gewerbegebiet. Dort sind etliche Unternehmen angesiedelt, vom Ingenieur- und Planungsbüro, über Softwareentwickler und Callcenter bis hin zu Gastronomie und Hotellerie. Der Nordsternpark gilt als eines der Vorzeigeprojekte für erfolgreiche Stadtentwicklung.

"Ein Reservoir an unentdeckten Talenten"

Oberbürgermeister Frank Baranowski hofft, dass in Zukunft noch mehr Unternehmen erkennen, wieviel Potenzial in den ehemaligen Zechen-Geländen steckt. Und nicht nur dort: Auch innerhalb der Bevölkerung gebe es bisher unentdecktes Potenzial, erklärt Talentförderer Robin Gibas von der Westfälischen Hochschule in Gelsenkirchen:
"Das Ruhrgebiet ist eines der dichtesten Ballungsräume Europas. Und wir haben knapp 600.000 Schülerinnen und Schüler hier. Das heißt, wir haben ein unheimliches Reservoir an unentdeckten Talenten."
Gibas ist Projektleiter der "Ruhrtalente", einem Programm, das mit Hilfe der RAG-Stiftung in Gelsenkirchen und anderen Ruhrgebiets-Städten Schülerstipendien vergibt.
"Die Schülerinnen und Schüler, die wir fördern, die sind leistungsstark, engagiert, aber haben möglicherweise nicht immer die idealen Rahmenbedingungen. Das heißt, da kann es sein, dass eine Schülerin, ein Schüler kein eigenes Zimmer hat, keinen eigenen Schreibtisch hat, da fehlt ein PC im Haushalt."

Stipendien für Arbeiterkinder

160 Ruhrtalente werden derzeit gefördert, eine von ihnen ist Christin Olejnik: "Ich bin ursprünglich von der Realschule und besuche nun die elfte Klasse des Leibniz-Gymnasiums in Gelsenkirchen."
Seit eineinhalb Jahren ist die 17-Jährige Stipendiatin. Das Programm hat ihr zum Beispiel eine zweiwöchige Sprachreise nach England finanziert. Außerdem gibt es regelmäßige Fortbildungen und Veranstaltungen für die Ruhrtalente, vom Knigge-Workshop über gemeinsame Museumsbesuche bis hin zu Diskussionsrunden oder Bewerbungstrainings. Auch wenn ein Stipendiat Nachhilfe braucht oder der PC kaputt geht, springt das Programm ein.
"Meine Eltern sind keine Akademiker. Mein Vater hat nach der zehnten Klasse eine Ausbildung gemacht zum Bäcker, hat in einer Bäckerei gearbeitet viele Jahre, fast 20 Jahre, bis die Bäckerei pleitegegangen ist."
Heute arbeitet er als Lieferant. Sie selbst, erzählt die 17-Jährige Christin, sei ehrgeizig und wolle was erreichen im Leben. Vielleicht aber muss sie dafür später aus Gelsenkirchen weg, obwohl ihr die Stadt am Herzen liegt.
"Ich finde, man merkt, dass Menschen von überall da sind. Klar kommt es auch zu Konflikten, aber ich finde einfach, dadurch lernt man nochmal ganz viele Sachen, die man in anderen Städten nicht lernen würde, weil halt so viele verschiedene Typen von Menschen hier leben und ich finde das was total Schönes."

Strukturwandel: eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe

Diese liebevolle Sicht auf Gelsenkirchen teilt Oberbürgermeister Frank Baranowski. Er wünscht sich, dass seine Heimat nicht immer nur als ärmste Stadt Deutschlands gezeigt wird. Immerhin waren Gelsenkirchen und das gesamte Ruhrgebiet einst der Wirtschaftsmotor Deutschlands.
"Das Thema Kohle war ja etwas, was der gesamten Republik zugutegekommen ist, da hat das Ruhrgebiet eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe übernommen. Und so ist es auch eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe zu schauen, was passiert denn dann nach der Kohle, und das kommt mir im Moment ein bisschen zu kurz."
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