Ruhm und Berühmtheit

Von Helden, Dichtern und TikTok-Stars

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Eine Frau posiert mit Konfetti vor einer Kamera, sie ist doppelt zu sehen, auf dem Bildschirm und im Hintergrund des Bildes.
Die Pose stimmt, jetzt muss es nur beim Publikum noch "Klick" machen. © unsplash / Amanda Vick
Von Milena Reinecke  · 12.09.2021
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Was haben Goethe, Gandhi und TikTok-Star Dalia gemeinsam? Sie sind berühmt. Aber worauf gründet ihre Glorie? Und sind dichterische oder politische Weihen mit Social-Media-Fame vergleichbar? Durchaus, meint der Germanist Dirk Werle.
Wer ist eigentlich berühmt? In einer Straßenumfrage werden auf diese Frage Joe Biden und Angela Merkel genannt, Gandhi, Schopenhauer und der Papst, Goethe und Schiller – und schließlich: "Andy Warhol fällt mir noch ein, der davon gesprochen hat, dass jeder Mensch 15 Minuten Ruhm bekommen sollte."
Dieses Zitat ist so berühmt, dass es sogar Andy Warhol selbst überlebt hat. Tatsächlich äußerte der amerikanische Pop-Art-Künstler 1968 nicht, jeder Mensch solle 15 Minuten Ruhm bekommen, sondern formulierte es als Prophezeiung. Heute könnte man fast sagen, er hat untertrieben: 15 Sekunden nur dauern die Videos auf dem Onlineportal TikTok, mit denen überwiegend Jugendliche auf einmal weltberühmt werden können, oft einfach nur, indem sie tanzen oder die Lippen zu einem Lied bewegen.

Nur berühmt oder schon unsterblich?

Diese Art von schnell zugänglicher Berühmtheit mit dem edlen, traditionsbeladenen, fast schon sakralen Begriff Ruhm zu benennen, löst in uns häufig kulturpessimistische Impulse aus, beobachtet der Germanist Dirk Werle: "In dem Sinne, dass Leute sagen: Tjaha, berühmt sind ja viele, aber der echte Ruhm, der hängt dann eben doch an der ganz tollen Leistung, und das ist dann das, was sich langfristig durchsetzt."
Werle selbst ist gegen eine Unterscheidung zwischen Ruhm und Berühmtheit. In seiner Habilitationsschrift "Ruhm und Moderne. Eine Ideengeschichte" stellt er eigene Definitionsansätze für das Phänomen Ruhm vor:
"Ruhm beschreibt einen Prozess, nämlich den Prozess, wie eine Person oder eine Leistung oder ein Sachverhalt über den Augenblick hinaus, und im Fall von Personen vielleicht sogar über ihren Tod hinaus, in der Welt sozusagen lebendig bleiben können."

Ein Name, eine Geschichte – und jede Menge Halbwissen

Damit das funktioniert, braucht es laut Werle zwei Zutaten: einen Namen und eine Geschichte, und sei sie noch so klein. "Ich nenne das Minimalnarration, weil die Geschichte nicht sehr ausführlich sein muss."
Werle nennt ein Beispiel:
"Der vielleicht berühmteste Physiker der Welt neben Isaac Newton ist ja wahrscheinlich Albert Einstein. Wenn man jetzt die Leute fragt: Warum ist Albert Einstein berühmt? Dann sagen die Leute, weil er die Relativitätstheorie entdeckt hat. Fragt man dann die Leute: 'Kannst du denn auch beurteilen, was die Relativitätstheorie ist und mir das erklären?' Dann werden wahrscheinlich die meisten Leute sagen: 'Nee, das kann ich nicht.' Ich zumindest kann das nicht. Ich kann dann höchstens noch sagen, dass da diese Formel ist, e = mc². Und dann werden manche vielleicht noch dieses ikonische Bild von Albert Einstein kennen, wo er die Zunge rausstreckt."
Name und Minimalnarration sind schon seit der Antike Bedingungen für Ruhm. Die Minimalnarration zur Berühmtheit von Odysseus könnte zum Beispiel lauten: der mit den ganzen Irrfahrten. Und die, die zum Namen Homer gehört: der, der die Sagen vom Helden Odysseus schrieb – und damit sowohl Odysseus als auch sich selbst gewissermaßen unsterblich machte.
"Für die europäische Geistesgeschichte könnte man sagen, dass die eine ruhmfähige Instanz typischerweise der Held ist, und die andere ist der Dichter", sagt Werle, "natürlich in den jeweiligen historischen Ausformungen".

Von Gnaden der Kritik oder der Algorithmen

Die Personen, die man als unsere modernen Helden und Dichter bezeichnen könnte, sind politische Akteure, Wissenschaftler und Künstler, so wie Gandhi, Albert Einstein oder Andy Warhol.
Tiktok-Stars hingegen lassen sich in den meisten Fällen nicht in das Schema von Held oder Dichter einordnen. Auch ist es schwer, eine individuelle Minimalnarration zu den Namen derjenigen Internetberühmtheiten zu finden, die hauptsächlich Choreografien nachtanzen, die sowieso gerade im Trend sind.
"Es funktioniert einfach nicht, dass ganz, ganz viele Personen und Leistungen und Werke berühmt werden", sagt Werle. "Ich glaube, wir haben als Menschen ein Problem: dass wir nicht alles, worüber wir uns ein Urteil bilden wollen, selbst eingehend prüfen können."
Darum brauchen wir laut Werle eine Art von Selektion – ob durch eine kuratierende Instanz wie die Literaturkritik oder durch Algorithmen, die die ohnehin beliebtesten Inhalte ganz oben erscheinen lassen. Dadurch entstehen Stars – und zwar in der Dichterszene genauso wie im Internet.

Was macht Ruhm langlebig?

Ruhmzeugende Faktoren gehen nicht primär vom Individuum aus, sondern von der Masse. Diese Idee hat der Denker Julian Hirsch schon 1914 in seiner Studie "Genesis des Ruhms" aufgeworfen. Damit bekommen massenpsychologische Phänomene wie das Bedürfnis nach Vereinfachung, Sensation und auch Verehrung eine wichtige Bedeutung als Bedingungen für Ruhm.
Aus psychologischer Sicht gibt es dementsprechend keinen Unterschied zwischen der Berühmtheit der 19-jährigen Dalia von Tiktok und dem Ruhm des Bestsellerautors Wolfgang Herrndorf. Beide werden von Millionen Menschen gekannt und verehrt.
Doch wenn wir den Begriff Ruhm an die antike Unsterblichkeitsidee koppeln, braucht es eine Minimalnarration, damit ein Name seinen Träger überleben kann. Bei Wolfgang Herrndorf ist das geschehen, bei den Tiktok-Stars – man wird es sehen.
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