Rüterberg in Mecklenburg-Vorpommern

Wie sich ein Dorf an der Elbe neu erfinden will

Das ehemalige Eingangstor nach Rüterberg, das von 1967 bis 1989 komplett abgeriegelt war.
Das ehemalige Eingangstor nach Rüterberg, das von 1967 bis 1989 komplett abgeriegelt war. © picture alliance/imageBROKER / Lothar Steiner
Von Alexa Hennings · 16.11.2018
Zu DDR-Zeiten war Rüterberg wohl einer der seltsamsten Grenzorte, die es damals gab. Als Halb-Insel wurde der Ort gleich zweifach eingezäunt: nach Osten wie nach Westen. Die Zäune sind verschwunden, die Herausforderungen durch die Lage bleiben.
"Wir sind ab heute Dorfrepublik! Und ich habe einfach gesagt: Bitte schön, wer dafür ist, hebe die Hand hoch. Und alle haben die Hand gehoben!"
Schneidermeister Hans Rasenberger war es, der am 8. November 1989 die Idee mit der Dorfrepublik hatte. Denn Rüterberg damals, das war die DDR in Potenz. Alles war auf die Spitze getrieben. Wegen seiner Fast-Insel-Lage am Elbbogen war das Dorf gleich zweifach eingezäunt: Ein Zaun verlief gen Westen, der andere, mit verschlossenem Tor und allem Drum und Dran, gen Osten. Auch die DDR war für die Bewohner nur mit Passierschein erreichbar. Wer ein Kind bekam, musste gut atmen: Nachts war es so gut wie unmöglich, die Einzäunung zu verlassen, um ins Krankenhaus zu fahren. Das gab es nirgendwo sonst an der innerdeutschen Grenze. Noch 1988 wurden elf Millionen DDR-Mark in neue Zäune und Grenzsicherungsanlagen rund um das Dorf investiert.
"Wir wollten frei sein zur DDR hin. Wir wollten genau dieselben Bürgerrechte haben wie die Bürger in der DDR. Wir wollten nicht die Grenze durchbrechen hier an der Elbe, die Westgrenze. Sondern die zur DDR hin, das sollte frei werden!"
Längst liegt Herr Rasenberger auf dem Dorffriedhof. Der ist eingezäunt von Teilen des ehemaligen Grenzzaunes. Wenn irgendetwas Qualität hatte in der DDR, dann waren es die Grenzzäune. Sie sehen noch fast wie neu aus, rostfrei und scharfkantig wie eh und je. Und weil man das gute Material nicht einfach wegschmeißen kann, zäunen die Rüterberger bis heute kurzerhand ihre Hühner und Enten damit ein, schützen Holzstapel vor dem Auseinanderrutschen und ihre Gemüsegärten sowie den Grabschmuck vor Rehen.

Winken verboten!

Meinhard Schmechel, ein stämmiger Mann Anfang 70, schlendert am Friedhof vorbei zum Deich. Auf den Elbwiesen spektakeln die Graugänse. Am Deich gab es früher keine Beete mit Grünkohl und Kapuzinerkresse wie jetzt. Genau hier verlief der Grenzzaun.
"Wir hatten immer so eine Auslaufzone - fünf Kilometer mal einen Kilometer. So. Das war unsere Freiheitsbewegung."
Auslaufzone. Das klingt nach Hühnerhof oder Zoogehege, und so ähnlich müssen sich die 140 Einwohner sich gefühlt haben damals. Bis zum Fluss hinunter durften sie nicht. Kein Rüterberger Kind hat je Steine auf der Elbe hopsen lassen. Und Winken war verboten.
"Wir hatten natürlich diese Sicht nicht, immer nur durch den Zaun. Die haben dann oft mal gewunken, wenn sie auf der Wiese waren. Ja, und wir haben uns dann eigentlich umgedreht. Das war immer das Makabre, was man machen musste. Also kein Kontakt zu irgendjemand."
Das mit den Ost-West-Kontakten besserte sich: Die Geschichte mit der Dorfrepublik war der Grund, warum das Dorf nach der Wende viele Touristen anlockte. Doch die Zeit der vollen Reisbusse ist vorbei. Auch kaum einer der Radler vom Elberadweg biegt noch ab, um das kleine Heimatmuseum zu besuchen. Es ist ruhig geworden im Dorf. Gasthaus und Pension haben längst geschlossen. Das Museum im selben Haus wird nur noch auf Anfrage geöffnet. Ein Zettel mit der Telefonnummer von Meinhardt Schmechel hängt dort im Fenster. Schmechel ist der ehemalige Bürgermeister von Rüterberg. Verantwortlich für das Heimatmuseum, seitdem es besteht.
An der Tür ein weiterer Zettel: Ein Euro Eintritt.

Und plötzlich war die Grenze weg

"Ja, wenn ich mehr nehme, dann kommen ja auch keine! Vier, fünf Jahre war gar nix. Manchmal zwei, drei Besucher oder auch gar keiner. Reine Tagesbesucher sind wenig, aber Reisebusse waren dieses Jahr schon."
Der Saal der Gaststätte ist historisches Terrain. Hier wurde die einzige Dorfrepublik ausgerufen, die es in der DDR je gab.
"Hier haben wir drin gesessen zu unserer Dorfrepublikausrufung, so viel Stühle hatten wir gar nicht. Die saßen auf Tischen und Bänken. Und wir haben hier vorn gesessen: Grenztruppen, Polizei und unser Dorfpolizist und ich."
Nicht nur Armeeangehörige und deren Familien lebten damals hier, auch Handwerker und Verkäuferinnen, Lehrer und Bauern. Meinhardt Schmechel, aufgewachsen in Vorpommern, wurde er mit 18 Jahren als Grenzsoldat in Rüterberg eingesetzt und lernte hier seine Frau kennen. Zu DDR-Zeiten war er Landmaschinenschlosser und Dorfbürgermeister. Ein hohes Maß an Anpassung war nötig, um hier bleiben zu dürfen. Oft musste sich Schmechel im Gespräch mit den Museumsbesuchern verteidigen, warum er denn noch hier gewohnt habe. Klar, er war in der SED - wie Millionen andere. Er hatte Haus, Hof und Familie hier. Wer will das verlieren?

Hans-Joachim Mück jedenfalls kann den alten Bürgermeister verstehen. Der pensionierte Polizist kommt aus Damnatz, direkt gegenüber auf der anderen Elbseite. Mück werkelt in seinem Carport, er hat das Radio an und schraubt an einem Bootsmoter.
"Wenn man Elbkind ist, dann kommt man von der Elbe nicht weg. Und wenn man dann mal den Wohnort wechselt: Der muss an der Elbe liegen! Wir konnten ja von Damnatz immer sehen, was hier passiert ist. Aber wir konnten niemanden sprechen. Eine echte Kontaktaufnahme war ja nie drin. War ja völlig ausgeschlossen. Und plötzlich hieß es: Die Mauer fällt. Die Welt veränderte sich auf einen Schlag. Und wir müssen hin! Und wie anders als mit dem Kahn? Niemals haben wir gedacht, hier jemals herzukommen. Und plötzlich: Peng. Stimmt. Und plötzlich peng."
Meinhard Schmechel, ehemaliger Bürgermeister der Gemeinde Rüterberg, steht an den Resten des Grenzzauns, der bis zur Wiedervereinigung das ganze Dorf umschloss.
„Wir hatten immer so eine Auslaufzone“, sagt der ehemalige Bürgermeister Meinhard Schmeche über das Leben zu DDR-Zeiten. © picture alliance / dpa / Andreas Tamme

Die Hälfte der Bewohner kommt mittlerweile aus dem Westen

Gemeinsam erlebt zu haben, wie es Peng machte, das verbindet. Jenen, die später ins Dorf zogen, fehlt dieser Moment. Von den 200 Rüterbergern kommt inzwischen die Hälfte aus dem Westen. Hier locken günstige Grundstückspreise und die unverbaute Natur. Man zieht aus Leverkusen hierher, aus dem Schwarzwald, aus Frankfurt am Main oder aus Hamburg. So wie Carmen Borchers und Julja Polonskaja-Günther. Vor ihrem Haus gleich am Dorfeingang haben die beiden Frauen einen Tisch voller köstlicher Dinge mit der Aufschrift "Elbgoldmanufaktur" aufgestellt.
"Ich dachte: Wenn ich hierher gehe, was mache ich dann hier? Und ich fand das Produzieren von Marmeladen und Gelees und Ölen und Essig zusammen mit meiner Lebenspartnerin. Von den Nachbarn bekommen wir Obst, das sie nicht verwerten. Das wissen die Nachbarn schon, dass sie nichts wegwerfen müssen. Von uns - meine Freundin angelt - kommt dann mal ein Fisch oder ein selbst gebackener Kuchen. Und so finde ich das ein schönes Hin und Her im Dorf - was mir eben auch Spaß macht, hier zu leben."
Carmen Borchers arbeitete vor ihrer Pensionierung als Übersetzerin und Bildungsreferentin in Hamburg, ihre Lebenspartnerin ist Ärztin und kommt aus Sankt Petersburg. Zur Aktion "Kunst Offen" laden die beiden Rüterbergerinnen in ihr Haus ein. "Kunst Offen" ist die Mecklenburger Version der "Kulturellen Landpartie" aus dem Wendland, der Landschaft auf der westlichen Elbseite. Überall in Mecklenburg-Vorpommern öffnen Künstler Pfingsten ihre Ateliers. Es kommt jedoch selten vor, dass Dorfbewohner ihr Haus dafür zur Verfügung stellen.
"Ich finde, die kulturelle Landpartie hat sich schon sehr inflationär bewegt inzwischen. Und das ist bei ‚Kunst offen‘ in Mecklenburg-Vorpommern nicht der Fall. Da ist es sehr individuell. Deswegen gefällt mir das hier auch so gut. Weil es so anders ist. Nicht so schnelllebig, nicht so kommerziell - und viel weniger Menschen."

Ohne Engagement läuft nichts

Hier ist nichts überlaufen - aber es gibt auch weniger Menschen, die mitmachen, mitorganisieren, sich einbringen, Ideen haben und verwirklichen - so empfindet es die Hamburgerin. Sie selbst ist Mitglied in drei Rüterberger Vereinen, die Kultur und sanften Tourismus voranbringen wollen.
"Ich glaube, die Menschen, die jetzt hierher ziehen, die tun es bewusster. Weil sie sagen: Vielleicht können wir hier noch was bewegen. Was wir immer schon mal machen wollten, ehrenamtlich arbeiten oder kulturell uns beschäftigen oder sich tatsächlich künstlerisch betätigen."
Im Förderverein, der die Rüterberger Gaststätte mit den Hotelzimmern und die Heimatstube in Eigenregie neu beleben will, macht immerhin ein Viertel aller Dorfbewohner mit. Da muss man sich zusammenraufen. Vielleicht wäre es manchem lieber, die aktiven Zugezogenen würden sich nur mit ihrer Marmelade befassen. Denn neue Ideen hereinbringen heißt eben auch, Altes infrage zu stellen.
"Die Heimatstube, die mal eingerichtet worden ist, die müsste dringend saniert werden. Entstaubt im wahrsten Sinne des Wortes. Man kann ja nicht nur nach hinten schauen, was gewesen ist. Ich finde, es hat sich ja in den letzten 25 Jahren hier im Dorf etwas getan. Was passiert jetzt hier? Ich weiß, es ist auch die Idee von Herrn Schmechel gewesen und er hängt auch sehr daran und wird mich nicht gerade loben, dass ich das sage. Aber ich finde, man kann es modernisieren, damit es wieder interessant wird, auch für jüngere Menschen zu schauen."
Der Förderverein möchte aus dem Gebäude ein Dorfgemeinschaftshaus machen - darüber sind sich Ur-Rüterberger und Zugezogene einig. Doch eine Umgestaltung der Heimatstube rührt an ein Gefühl, das mit Verlust und Bevormundung zu tun hat. Da wird es schwieriger.

Angst vor dem Verlust

"Die Menschen hier müssen es für sich selber entdecken. Wir können ihnen nichts aufzwingen. Ein Ratschlag ist für manchen ein Schlag und kein Rat. Es ist wirklich schade, dass wir das nicht so hinbekommen."
Julja Polonskaja-Günther sieht die Ursache mancher Empfindlichkeiten und Missverständnisse in der Geschichte der Menschen, die hier unter sozusagen verschärften DDR-Bedingungen gelebt haben.
"Ich komme aus der Sowjetunion und ich finde die absolut typische Denkweise, wie sie in Osteuropa war. Und das bleibt hier. Das verändert sich, aber langsam."
Borchers: "In diesem Grenzdorf ist es so, dass sie unter einer besonderen Situation leben mussten. Unter Druck. Die Menschen sind hier anders sozialisiert und sie begucken uns, die hier die Sachen gekauft haben und investiert haben, erst einmal sehr kritisch und oft auch mit etwas Neid."
Polonskaja: "Ja, und ängstlich. Im Prinzip ängstlich, ängstlich zu verlieren. Ich habe bis jetzt nicht verstanden, was."
Wer mit dem alten Bürgermeister durch das Dorf läuft, der spürt, wie stolz er ist auf das Erreichte. Er sorgte dafür, dass die Gemeinde nach der Wende Grundstücke sehr günstig verkaufte - so konnten damals viele junge Leute bauen. Deren Kinder sind jetzt Jugendliche oder junge Erwachsene. So kommt es, dass Rüterberg kein überaltertes Dorf ist, jeder vierte ist unter 25.
"Gucken Sie, der ist auch weit von Süden hergezogen hier. Das war früher der Konsum und das haben die umgebaut, neues Dach rauf und ringsum alles wunderschön gemacht."
Egon Weber und Heidrun Müller beladen gerade ihr Auto.
"He, willst du schon wieder verreisen?"
Ins Allgäu soll es gehen, die alte Heimat.
"Ach Quatsch, da kennst du doch gar keinen mehr!"
"Wie lange sind wir jetzt da, Meinhardt? Vier Jahre? Wir haben das hier gekauft, das war eine alte Schabracke, die haben wir uns halt schön restauriert. Haben auch viel Geld reingesteckt."
"Habt Ihr schön gemacht."

Viele meckern und warten - anstatt sich zu engagieren

Im Dorf fühle er sich wohl, da sei die Welt in Ordnung, meint Egon Weber. Aber Rüterberg ist seit Jahren eingemeindet und gehört nun zu Dömitz, und dort etwas zu erreichen, sei fast unmöglich. Der Kampf um neue Energiesparbirnen für ein paar Straßenlaternen zum Beispiel hat dazu geführt, dass ein Einwohner sie gesponsert hat und mit dem ehemaligen Bürgermeister auf die Leiter geklettert ist, um sie selbst hineinzuschrauben. Auf der Gemeinderatssitzung in Dömitz, so erlebte es der zugezogene Rüterberger, werden die Bürger nicht ernst genommen mit ihren Anliegen.
"Und das sind Sachen, die einfach nicht in Ordnung sind. Ich kenne das anders. Ich bin ja ein Wessi. Es ist definitiv so, dass hier noch latent DDR-Strukturen vorhanden sind, das gehört einfach aufgebrochen. Es kommen keine Ideen, kein Input, nichts da. Der Wunsch wäre einfach, wesentlich mehr Demokratie in die ganze Verwaltung rein, wesentlich bürgerfreundlicher, auf den Bürger zugehen, zusammen Sachen entwickeln. Das wäre mein Wunsch, was absolut nötig täte. Aber es wird halt nicht gemacht."
Und auch damit hat Egon Weber zu kämpfen: Dass viele Leute sich kaum engagieren, sondern nur meckern und dann warten, was "von oben" kommt.
"Wir sind doch so groß geworden. Das vergesst ihr immer! Das vergisst du, zu sagen, und das finde ich dann nicht in Ordnung."
"Was meinst du?"
"Na uns hat man das alles so beigebracht. Ich kenne das doch aus der Gemeinde. Ich habe gesagt: Du musst das und das machen. Das wurde immer angeordnet. Ihr habt doch anders gelebt, und nun ist es schlecht für euch, zu verstehen, dass Unsere immer noch so sind. Das ist aber so. Du kannst den Hebel nicht umlegen!"
Meinhardt, das ist doch das, was ich sage: Diese Strukturen, die gehören geändert."
"Aber die kriegst du nicht geändert! Du musst warten, bis die Generation weg ist!"
"Warte mal, jetzt sind bald 30 Jahre rum, eine Generation sagt man, sind so 25 Jahre. Also irgendwie …
"Es geht doch schon los: 25 Jahre warte ich auf die Rente, die ihr kriegt im Westen. Krieg ich auch nicht! Also, die Strukturen haben sich gar nicht geändert!"

Naturnah und seniorengerecht

Die beiden Männer werden sich dann doch einig, dass sie das mit der Rente auch nicht beeinflussen können und Strukturen auf beiden Seiten anders werden müssen. Gemeinsam alt werden in einer strukturschwachen Region - das zu gestalten, müssen Alt- und Neu-Rüterberger gemeinsam hinbekommen. Nur eine Hausärztin weit und breit, kein Busverkehr, kaum Einkaufsläden. Solche Dinge. Unten an der Elbe gibt es jetzt ein Wohnprojekt eines Hamburger Ehepaares. Dort können sich Menschen ansiedeln, die nicht im Altenheim leben wollen.
"Ich finde es ganz toll, wenn Menschen hierher gehen und sagen, wir machen hier nochmal was. Hier alt werden heißt ja auch, vielleicht gebrechlich werden. Und die Infrastruktur gibt es hier nicht für uns. Die müssen wir uns selber schaffen. Es geht nicht mehr um Selbstversorgung, sondern es geht einfach um die Rettung dieser wunderbaren Räume, die es hier gibt. Auch der Naturräume. Wir können vorsichtig versuchen, gemeinsam hier eine Infrastruktur zu schaffen, die allen nützlich ist. Das finde ich einfach eine wunderbare Idee."
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