Rückschau auf ein anderes Berlin

Die Schriftstellerin Irina Liebmann sprach Anfang der 80er-Jahre mit den alten Bewohnern in der Großen Hamburger Straße, zog von Haus zu Haus und sammelte die Erinnerungen an Nachbarn, die es längst nicht mehr gab. Erst kürzlich veröffentlichte sie ihre Recherchen.
Die Fotos, die etwa die Hälfte des Buches ausmachen, zeigen das Berlin rund um den Hackeschen Markt zu Beginn der 80er-Jahre. Man sieht zerbröckelnde Häuser, Hinterhöfe, vernagelte Schaufenster, einen Laden mit der Aufschrift "Gemüse Konserven Kartoffeln", kleine Schulmädchen, nasses Straßenpflaster, Trabis am Straßenrand. Man sieht Stagnation, Zerfall, Unentschiedenheit: Das Abwarten, das Endzeithafte, das die Epoche ausmachte, ist förmlich mit Händen zu greifen. Die Schriftstellerin Irina Liebmann wollte damals ein Buch über die "stille Mitte" Berlins schreiben.

Daraus wurde erst einmal nichts; es blieb bei den Recherchen. Erst 2001 fiel ihr das Material wieder in die Hände. Der Essay über ihre damaligen Forschungen, der kurz nach dem 11. September entstand, ist nun - in der Neuauflage des Buches - selbst schon wieder historisch geworden. Er spiegelt das Entsetzen über den Terroranschlag in New York und das Bewusstsein, schon wieder an einer Zeitenwende zu stehen. Von hier aus schaut Irina Liebmann zurück: auf die versunkene DDR, und von dort aus tief in die Geschichte des Viertels bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts.

Was faszinierte eine junge Frau Anfang der 80er-Jahre in der DDR so sehr an der Geschichte, fragt Liebmann zunächst und gibt darauf mehrere Antworten: dass die Gegenwart so wenig Abwechslung bot; dass das Frühere nach Abenteuer und Unordnung roch; dass die ganze Gegend aufgegeben und dem Verfall überlassen schien; vor allem aber, dass die Auseinandersetzung mit früheren Zuständen den Vorhang zu einer anderen Welt öffnete und ein Außerhalb im ummauerten Berlin sichtbar werden ließ. Geschichte, die es offiziell nur als historisch-kritischen Materialismus gab, erhielt auf diese Weise eine neue Dimension. Irina Liebmann erforschte das Alltagsleben und betrieb so etwas wie "Oral History".

Sie sprach mit den alten Bewohnern der Großen Hamburger Straße, zog von Haus zu Haus und sammelte die Erinnerungen an Nachbarn, die längst weggezogen oder gestorben waren. Rasch verengte sich das Interesse auf die Zeit vor 1945, als vom Altersheim in der Großen Hamburger Straße als Sammelstelle mehr als 50.000 Juden deportiert wurden. Die Befangenheit, darüber zu sprechen, ist groß, und auch Irina Liebmann wollte kein Buch über die jüdische Geschichte des Viertels schreiben: "nichts peinlicher als das".

Deshalb gräbt sie tiefer, forscht in Archiven und stößt dort auf die Urwählerzeitung - ein radikaldemokratisches Blatt aus den postrevolutionären Jahren 1848/49. Ihre DDR-Gegenwart mit Zeitungen, auf deren Titelseite zuverlässig Erich Honecker abgebildet ist, schneidet dagegen denkbar schlecht ab. Interessant, dass schon damals Auswanderung ein großes Thema war: Die USA waren das Ziel vieler Demokraten, die in Deutschland keine Zukunft mehr sahen. Der Substanzverlust, den die Gesellschaft dadurch erlitt, zieht sich hin bis in die Gegenwart der 1980er Jahre, die geprägt sind von Ausreiseplänen in den Westen und vom Warten auf die Genehmigung: Trennung, Wegzüge, Verluste überall.

Geschickt überblendet Liebmann die Zeiten, die Epochen und die prägenden Motive. Aus der Gründerzeit, wo sie auf die Spur des antisemitischen und antiliberalen Treibriemenfabrikanten Franz Pretzel stößt, führt ein Linie bis in die neue Gründerzeit nach der Wende, in der auch die jüdische Schule – allerdings hinter einem gewaltigen Schutzzaun - wiederkehrte. Schließlich ist aus "Stille Mitte" doch eine Geschichte der Juden und der Sehnsucht nach dem Westen geworden, auch wenn Liebmann das nicht beabsichtigt hatte. Die Themen sind so dominant, dass sie sich durchsetzen mussten.

Besprochen von Jörg Magenau

Irina Liebmann: Stille Mitte von Berlin
Eine fotografische Spurensuche rund um den Hackeschen Markt
Berlin Verlag, Berlin 2009
112 Seiten, 19,90 Euro