Rückkehr zur Geschichtserzählung

10.12.2009
Mit seiner "Geschichte des Westens" knüpft der Historiker Heinrich August Winkler an große Stilisten wie Theodor Mommsen an. Seine Darstellung der Geschichte ist eine große Erzählung. Er beschreibt Staatsmodelle und Gesellschaftsentwürfe und illustriert Thesen berühmter Denker. Doch was "der Westen" letztlich ist, lässt Winkler offen.
Am Anfang stand die Idee, dass es so etwas wie "den Westen" tatsächlich gibt. Eine transatlantische Schicksals- und Wertegemeinschaft, die beste aller möglichen Welten. Heinrich August Winkler hat einen erheblichen Teil seiner wissenschaftlichen Arbeit dieser Idee gewidmet. Nun hat er ein geradezu vermessen wirkendes Werk vorgelegt: eine "Geschichte des Westens" von der Antike bis zum Ersten Weltkrieg, 1300 Seiten stark. Ein Band über das 20. Jahrhundert soll folgen.

"Geschichte des Westens" – dass provoziert die Frage: Lässt sich eine Idee, ein geistiges Konstrukt, mit einem chronologisch-narrativen Verfahren abbilden? Winkler schafft es, indem er gleich mehrere Darstellungen von großer Dichte ineinander verzahnt.

Er beschreibt zum einen die Herausbildung des Abendlandes (mit Deutschland an zentraler Stelle) und die seiner kolonialen Gier; er berichtet von der Emanzipation der Kolonien und von transozeanischen Wechselwirkungen. Er schlägt einen weiten Bogen, nach Nord- und Südamerika, nach Asien und Afrika. Zum anderen kommentiert er Gesellschaftsentwürfe, Staatsmodelle sowie die Thesen von Denkern aller Zeiten.

Historiker der Vergangenheit, etwa Leopold von Ranke oder Theodor Mommsen, waren auch großartige Stilisten. In jüngerer Zeit ist die Kunst der Geschichtserzählung in Deutschland fast verloren gegangen; Winkler belebt sie wieder. Sein monumentales Opus ist ein intellektuelles und ästhetisches Vergnügen, man liest sich fest.

Doch nach dem Leserausch kommen Zweifel: Lassen sich 2000 Jahre in einem Band verlässlich abbilden? Die Proportionen in dem Buch machen stutzig: Die Erfindung des Westens und frühe Prägungen - die Frühgeschichte mit der Erfindung des Monotheismus, das Christentum, die Rivalität zwischen Kaiser und Papst, das aufkommende Bürgertum - das beschreibt Winkler auf 110 von 1200 Textseiten; für die Reformation und die Eroberung der transatlantischen Welt benötigt er 200 Seiten; für die Zeit von 1789 bis 1914 knapp 900 Seiten. Natürlich gibt es über die jüngere Geschichte mehr zu berichten; trotzdem darf man fragen: Passen die Proportionen zu dem Anspruch, den der Titel vermittelt?

Winklers Geschichte ist eine Geschichte großer Reiche und großer Namen. Bismarck wird über 200 Mal erwähnt, Marx fast genauso oft. Unter verworrenen Entwicklungslinien entdeckt der Autor immer wieder ein Bild: sein Bild vom Westen. Mit seinem Glauben an einen ordnenden Geist, an ein Gesetz hinter dem Chaos steht Winkler nahe bei den Alten, bei Mommsen und Ranke.

Was ist "der Westen"? Räumlich bewegt sich Winkler im alten Europa und in der neuen Welt Nordamerika. Eine Definition indes, was der Westen sei, liefert er nicht; Winkler betont die verbindenden Idealen - Menschenrechte, Volkssouveränität, Gewaltenteilung, allgemeine Rechtssicherheit.

Die Kehrseite, das Böse in Winklers Westen, sind Hexenwahn und Judenpogrome, Nationalismus, Massaker und Sklaverei, der stete Verrat der Politik an den (westlichen) Idealen. Aber, meint der Autor: "So zynisch der Westen sich gegenüber der nichtwestlichen Welt meist verhielt, so besaß er doch die Fähigkeit zur Selbstkritik, zur Korrektur seiner Praxis und zur Weiterentwicklung seines Projekts." Ist der Westen ein Projekt?

Winkler entwickelt viele interessante Gedanken in diesem epochalen Werk. Trotzdem bleibt die Frage, ob Winkler den Westen nicht zu sehr durch die eigene, westliche Brille betrachtet. Ist das in Zeiten der Globalisierung (auch in der Geschichtswissenschaft) noch zeitgemäß?

Besprochen von Uwe Stolzmann

Heinrich August Winkler: Geschichte des Westens.
Von den Anfängen in der Antike bis zum 20. Jahrhundert

Verlag C. H. Beck, München 2009, 1286 Seiten, 38 Euro