Rückkehr der Ästhetik

Von Barbara Wiegand · 15.06.2007
Die documenta 12 ist auch eine Rückkehr der "Schönen Künste": Um den Menschen die Kunst näher zu bringen, soll der Weg geebnet werden für die "ästhetische Erfahrung" – die den Besucher, wie documenta-Chef Roger M. Buergel sagt, aktiv machen soll. Nach der theoretisch überbauten, dokumentar- lastigen vergangenen documenta von Okwui Enwezor ist das etwas, worauf ich mich, genauso wie viele andere, im Vorfeld gefreut habe.
Auch wenn das durchaus bedeuten kann, wie Buergel provokant formuliert, dass man nicht alles gesehen haben muss, nicht alles verstehen muss, mögen muss, ja sich auch mal langweilen kann. Ästhetik ist bei ihm also nicht das perfekte Event, sondern – und das ist absolut lobenswerter Ansatz, in Zeiten von Kunsthype und Blockbuster Schauen - es ist ein Bekenntnis zur fast vergessenen Alltagskultur des Hinsehens, des Auf-sich-wirken-lassens, des Vielleicht-etwas-Erkennens, vielleicht den Blick-weiter-schweifen-lassens …

Ein Ausstellungsrundgang als aktiver Müßiggang, auf dem der Betrachter nicht nur dem Geist, sondern durchaus auch den Augen und dem Bauch vertrauen soll. Roger Buergel und seine Frau und Kuratorin Ruth Noack vertrauen auf die Kunst selbst, aber vor allem auch ihre Inszenierung.

Im Fridericianum als zentralem Ausstellungsort öffnet beispielsweise schon der Eingang des 1779 errichteten Gebäudes der Ästhetik Tür und Tor: Der sonst eher schnell durchlaufene, unscheinbare Vorraum wird an seinen Wänden zu endlos scheinenden Arkaden gespiegelt. Und überhaupt verschafften sich die documenta-Macher den gewünschten Wirkungsraum: Das Gebäude wurde quasi entkernt: Einst verschottete Fensterfronten erlauben jetzt den Blick ins Freie – selbst wenn die eleganten, cremefarbenen bodenlangen Vorhängen geschlossen sind weiß man zumindest wo draußen ist – früher manchmal klaustrophobische Zustände mit nachtschwarzen Videoboxen gehören der Vergangenheit an.

Die Zwischeneinbauten aus den 60er Jahren wurden herausgenommen, zugunsten großzügiger Säle, mal lindgrün, mal dunkelrot gestrichen. Was an die Berliner Gemäldegalerie und andere Museen Alter Meister erinnert, und den sonst gern für Zeitgenossen genutzten White Cube hinter sich lässt. Außerdem wurde das alte, zentrale Treppenhaus ansatzweise rekonstruiert, so dass jetzt in der Rotunde eine Treppe vom Erdgeschoß in den ersten Stock führt. Nur die Decken des im Zweiten Weltkrieg stark zerstörten und danach - wie vieles in Kassel - hastig wieder aufgebauten Museums, die sind in all ihrer Hässlichkeit zu sehen.

Das tut aber der Wirkung der Kunst im und durch den Raum keinen Abbruch. Und auch nicht der Wirkung durch andere Kunst. Denn zu Buergels Konzept, Räume zu inszenieren, gehört ja nicht nur die Hülle, sondern auch der Inhalt – die Bilder, Skulpturen, Installationen. Kunstwerke verschiedenster Jahrgänge und Stilrichtungen stehen in Bezug zueinander, begegnen sich quasi.

Manchmal treffen Gegensätze aufeinander, oft aber ist es ein vielgestalteter Gleichklang: Zheng Guogus Wasserfall aus zerflossenem Wachs scheint genauso zu Eis erstarrt, wie der Schnee auf den Fototafeln mit den rückwärtig abgelichteten Brunnenfiguren darauf, die Andrey Monastyrsky um ein imaginäres Bassin herum gruppiert hat.

Es ist ein Spiel der Farben und Formen im Fridericianum, manchmal von tänzerischer Leichtigkeit. Etwa die durch den ganzen Raum und darüber hinaus ein Stück weit nach draußen wogenden Plastikbahnen der Brasilianerin Iole de Freitas, die trotz der Eisenstangen, an denen sie befestigt sind etwas von flatternden Stoffbahnen haben. Ja, sogar in Bronze gegossene Festplatten und frittierte Miniaturpanzer wirken schön daneben. Auf ovalen Sockeln präsentiert ist das Ganze wohl nicht ohne Absicht zur hochglänzenden Perfektion stilisiert.

Doch es gibt auch Sachen die tiefer gehen, die verstören - trotz, oder gerade wegen der ästhetischen Inszenierung. Zum Beispiel: die Tänzer, die sich nach einer Choreografie von Trisha Brown in einem Netz aus Seilen verstricken und in der daran aufgehängten Kleidung, in die sie bei ihren Performances schlüpfen, zwanghaften Halt finden. Konzentriert man sich bei einer dieser Vorführungen einmal nur auf die Schatten, die unter diesem Netz entstehen, entdeckt man ein faszinierendes, bewegtes Liniensystem.

Irritierend ist auch die wohl berühmteste und bekannteste Arbeit auf dieser documenta: Gerhard Richter Portrait der Betty von 1977. Nicht nur wegen des unverwandten Blickes des wie auf einem Tablett servierten kleinen Mädchens, auch weil der Betrachter erst einmal um die Ecke gehen muss, um es zu entdecken, hängt es doch auf der Rückseite der de Freitas Installation.

Irritierend und auf den ersten Blick unerklärlich ist auch die Präsentation des kleinformatigen Gemäldes, denn rechts und links von ihm hängen zwei abstrakte Gemälde von Lee Lozano. Erst auf den zweiten, vielleicht dritten Blick sieht man die kompromisslose Klarheit zum einen der Figürlichkeit, zum anderen der geometrischen Formen. Hier ziehen sich Gegensätze an und vereinen sich.

Wunderbarerweise muss man bei der d12 nicht in dunklen Boxen verschwinden, um bewegte Bilder zu sehen. Wie ein Gemälde hängt etwa Peter Friedels mit einer künstlichen Schlange rangelnder Tiger an der Wand. Unter dem Dach tanzt Luis Jacob auf einer Videoleinwand, die mit einem Teppich und zwei Monitoren davor zu einer Art Schrein wird.

Auch in der neuen Galerie, wo sonst Kunst seit 1750 gezeigt wird, taucht man ein in ein museales Arrangement. In lindgrün oder gewagt lachsfarben gestrichen gibt es große Säle, gesäumt von kleinen Räumen. Hier haben Buergel und sein Team wahre Kabinettstücke vollbracht, hier wird deutlich, dass die Form, weniger der Inhalt der Werke im Mittelpunkt steht, als eigentlicher Kern der Kunst. Und damit als verbindendes Element über Zeiten und Medien hinweg.

In schummrigen Räumen sind fein zu Papier gebrachte Strichsysteme, ornamentale Teppiche, mäandernde Spruchbänder, zu kleinen Skulpturen zerkaute Kaugummis milde angeleuchtet. Und auch hier finden sich Videos mittendrin, etwa Martha Roslers Stillleben des mobilen Lebens die Autofahrten entlang blühender Felder zeigen.

Nur manchmal gibt es Übertreibungen, wenn Mary Kellys Glashaus mit eingravierten Bekenntnissen zur Frauenbewegung und Churchill Madikidas weihevoller Gedenkort für die Aids-Opfer doch ein wenig sehr theatralisch rot aus dem Dunkel herausleuchten. Insgesamt aber löst Buergel hier seinen Anspruch ein, sich der Kunst über die ästhetische Erfahrung anzunähern.

Die von vergangenen documenta-Chefs wenig geliebte documenta-Halle ist auch für Buergel kein zentraler Ausstellungsort – und trotzdem, bei den Farben, lässt er es auch hier – salopp gesagt - gewaltig krachen. Gelbe Wände, violetter Teppichboden im Eingangsbereich, hinten in der hohen Halle ist blau an den Wänden, grün auf dem Boden angesagt.

Dort steht unter anderem die Giraffe des Österreichers Peter Friedl - die Giraffe mit der dramatischen Geschichte also, die symbolisch für Opfer des Nahost Konfliktes stehen soll, geriet sie doch im Zoo von Ramallah bei einem Angriff so in Panik, dass sie stürzte und starb. Drum herum gibt es in einer Art Petersburger Hängung ein Aufeinandertreffen unterschiedlichster Werke – einen 200 Jahre alten Gartenteppich etwa als Verweis auf den Buergel-Begriff der Migration der Form, Holzschnitzereien neueren Datums, oder auch Abdoulaye Konatees mit Textilstreifen komponierte Symphomie in Blau, die fast unter der Decke hängt. So dass man nicht auf die Kunst sieht, sondern hinauf zu ihr.

Ebenerdig sind dagegen die aus Zivilisationsschrott zusammen gezimmerten Wägelchen der deutschen Cosima von Bonin geparkt. Sollte das als ironisches Spiel mit dem ästhetischen Anspruch gedacht sein, dann gelingt das nicht wirklich. Die documenta Halle wirkt eher wie ein Sammelsurium, ja die Arbeiten wie abgestellt. Ein gewagtes Farbdesign allein genügt nicht, eine Inszenierung des Raumes, wenn die Kunst nicht integriert wurde, das zeigt sich hier.

Der Pavillon vor der Orangerie in der barocken Karlsaue, wo heute Boule, früher einmal Bowling gespielt wurde, da hat es den Anschein, als ob Roger Buergel hier die Puste ausgegangen ist. Das Ganze wirkt so trist, wie das Mohnfeld der Kroatin Sanja Ivekovic, das statt vor dem Fridericianum rotblühend zu wogen eine einzige Wüstenei aus Unkraut ist. Während hier aber Wetter und pickende Vögel die Verantwortung tragen, fragt man sich hier, wozu der immense Aufwand?

Konnte man vorher zumindest manches Mal schwelgen im Kunsterlebnis, folgt hier gnadenlos die Ernüchterung. Man wacht auf aus dem Traum von Transparenz, der ursprünglich angekündigt war und findet sich in einem improvisierten, grau schwarzen Gewächshaus wieder. Das Surren der Klimaanlage, deren Rohre und Aggregate nach außen weithin sichtbar sind, permanent im Ohr. Auch lichtempfindliche Kunst sollte gezeigt werden, ohne dass die Farbe zerrinnt, die Blätter vergilben, oder gar der Betrachter im Backofenheißen Bau mit den gewellten, transparenten Wänden einen Hitzschlag bekommt.

Hinter den grauen oder schwarzen Vorhängen scheint die Kunst dann aber oft einfach irgendwie hingestellt. Manch Patchwork -Teppich und manche Bastelei sind offensichtlich nur der Form, nicht der Qualität halber nebeneinander gehängt. Und Herausragendes, wie Charlotte Posenenskes verstörende Drehflügeltüren und Gerwald Rockenschaubs gekonnt die Grenzen von Kunst und Design auslotende Installationen kommen kaum zur Wirkung. Die Kraft der Ästhetik verliert sich in den mal asphaltierten, mal mit billig wirkendem grünem Rollteppich ausgestatteten Hallen.

Im Pavillon ist Buergel wohl mit seinem ästhetischen Anspruch an die Grenzen gelangt. Vielleicht auch an die Grenzen dessen, was eine ästhetische Betrachtung der Kunst heute vermag – zum einen ist es sicher ein wichtiger Schritt, sie nach den von verkopfter Konzept-Kunst dominierten Zeiten wieder zuzulassen, um einen Zugang zur Kunst zu finden. Andererseits besteht immer die Gefahr der Oberflächlichkeit, dass man die Inhalte dieser Betrachtungsweise zu sehr unterordnet. Eine Gefahr, in die sich Buergel bewusst begeben hat, mit dem Wissen, dass er scheitern kann. Manchmal – im Pavillon tut er es. Aber nicht immer.