Rückblick ins Leben

Rezensiert von Rainer Moritz |
Der Roman "Jedermann" endet mit der Beerdigung seines Protagonisten. Im Rückblick läuft sein Leben vor den Augen des Lesers ab. Die jüdischen Wurzeln der Familie, mit denen der Sohn bald herzlich wenig anfangen kann, oder das väterliche Geschäft "Jedermanns Schmuckladen" sind vertraute Motive aus dem Werk des amerikanischen Bestsellerautors Philip Roth.
Kaum ein Autor verströmt eine vergleichbare Energie wie er, und kaum einem anderen Autor sind allein in den letzten Jahren derart viele Meisterwerke gelungen wie dem 1933 geborenen Amerikaner Philip Roth. Den umfangreichen Romanen "Sabbaths Theater" oder "Der menschliche Makel" stellt er nun einen deutlich schmaleren Band an die Seite, und nichts wäre irriger, als in diesem Buch "Jedermann" ein Nebenwerk zu sehen.

Nein, diese wie Hugo von Hofmannsthals berühmtes Stück auf ein gleichnamiges spätmittelalterliches Mysterienspiel zurückgehende Geschichte ist konzentrierteste Prosa, die ein zeitloses und ein zugleich besonders aktuelles Thema, Krankheit im Alter, Verlängerung des Lebens durch die Medizin, Tod, mit solcher Eindringlichkeit behandelt, dass der Bücherherbst allein deswegen gepriesen werden muss.

"Jedermann" beginnt mit der Beerdigung seines Helden, eines Mannes Anfang der Siebziger, der bei einer verhältnismäßig harmlosen Operation einen Herzstillstand erlitt und starb. Im Rückblick läuft sein Leben vor den Augen des Lesers ab (und Roth-Leser erkennen darin natürlich zahlreiche vertraute Themen und Motive): Die Herkunft aus der Nähe von Newark, die jüdischen Wurzeln der Familie, mit denen der Sohn bald herzlich anfangen kann, das väterliche Geschäft "Jedermanns Schmuckladen", der provozierend gesunde Bruder Howie, die Karriere als Art Director in einer Werbeagentur, die drei Ehen mit drei Kindern, die Leidenschaft zur Malerei und nicht zuletzt die Hoffnung, in einer edlen Seniorenresidenz an der Ostküste Ruhestand und Alter unbeschwert zu genießen.

Doch aus diesen Vorstellungen wird nichts: Philip Roth erzählt in einer bewundernswerten Kühle, wie sich die Krankheiten in immer schnellerer Folge dieses Mannes bemächtigen und wie dieser, wohin sein Auge blickt, nur noch Sieche und Sterbende wahrnimmt. Die "Unabweislichkeit des Todes" überzieht alle Gedanken und lässt das Alter, den vermeintlichen goldenen Herbst, als "Massaker" erscheinen, ein Umstand, der um so fataler ist, da der erfolgreiche Werber in seinen besseren Tagen vor (sexueller) Vitalität strotzte und nun zusehen muss, wie das Leben daraus besteht, auf Krankheitssymptome zu achten und tote Weggefährten zu beklagen.

Philip Roths vielleicht größte schriftstellerische Qualität liegt darin, mit knappen Mitteln Personen zu lebendigen Charakteren zu machen und die Illusion zu nähren, man habe es nicht mit Fiktion, sondern mit realen Menschen zu tun. So wenn er Jedermanns zweite Frau Phoebe, die er wegen einem auf ihre äußerlichen Reize beschränkten dänischen Model verließ, eine glasklare Flammenrede gegen ihren treulosen Mann halten lässt.

Oder wenn ein Totengräber in größter Präzision von den handwerklichen Anforderungen an seinen Job berichtet und Roths Held am Ende hoch erfreut ist, dass dieser gewissenhafte Mann es war, der das Grab seiner Eltern aushob. Das alles sind Beispiele einer einmaligen Erzählkunst, und erst diese hilft über die Schonungslosigkeit des Schreckensbildes hinweg, das Philip Roth in "Jedermann" an die Wand wirft. Der Tod ist nicht zu bannen, und sein Kommen geht meist mit Krankheit und Schmerzen einher und mit dem grausamen Verlust der wenigen Menschen, die einem bleiben. Und allein mit der Sehnsucht "nach den schönsten Tagen der Kindheit, nach der schlanken Gerte, die damals sein Körper war", lässt sich diese Erkenntnis nicht zurückdrängen. So einfach, so existenziell anrührend kann Literatur sein, ohne alle jenen künstlichen Konstruktionen, die die Lektüre so vieler anderer Romane beschwerlich macht.

Philip Roth: Jedermann.
Aus dem Amerikanischen von Werner Schmitz.
Carl Hanser Verlag München, 2006
176 Seiten, 18,90 Euro